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DVD/Blu-ray Tchaikovsky: IOLANTA, DER NUSSKNACKER

live Aufzeichnung Palais Garnier, Opéra National de Paris vom März 2016 – BelAir Classique

21.01.2019 | dvd

DVD/Blu-ray Tchaikovsky: IOLANTA, DER NUSSKNACKER – live Aufzeichnung Palais Garnier, Opéra National de Paris vom März 2016 – BelAir Classique

 

Ballett in der Oper gibt es ja zuhauf. Ballet und Oper nebeneinander schon deutlich weniger. Regisseur Dmitri Tcherniakov hat sich daher ganz bewusst als Pendant zur kaum abendfüllenden Oper „Iolanta“ nicht  wie üblich irgend einen anderen Operneinakter gewählt, sondern das Ballett „Der Nussknacker“. Beide entstammen der Spätphase des Komponisten. Inhaltliche Bezüge gibt es nicht, aber es verbindet sie (entfernt) verwandte musikalische Ideen und Themen. Zudem wurden beide Stücke zusammen 1892 im Mariinsky Theater in Sankt Petersburg uraufgeführt. Daran knüpft der Regisseur nun an. Dmitri Tcherniakov: „Tchaikovsky hat beide Stücke ein Jahr vor seinem Tod komponiert, das war jener Tchaikovsky, der die Sechste Symphonie geschrieben hatte. Iolanta und Nussknacker bilden eine weitere tragische, sowohl in der Oper als auch im Ballett angesiedelte Symphonie. Diese zwei so unterschiedlichen Geschichten haben dank der Musik etwas gemeinsam.“

 

Ich habe Iolanta das erste und letzte Mal in Paris in der Salle Pleyel in einer konzertanten Aufführung mit Anna Netrebko in der Rolle der blinden Tochter des König René am 11.11.2012 erlebt und auch darüber für den Merker berichtet. Seither gibt es eine kleine Renaissance dieser “Befreiung/Heilung durch Liebe”-Oper zu beobachten. Die Oper zählt auch nicht mehr zu den Stiefkindern der Tonträgerindustrie. Der Musikfreund hat die Wahl aus einem kleinen, aber feinen Angebot. Das Ballett “Der Nussknacker” ist ja sowieso längst im Repertoire jeder klassischen Balletttruppe etabliert und unverzichtbarer Kassenschlager vieler Häuser vor allem zu Weihnachten geworden.

 

Geht der üblicherweise exzentrische Regie-Star Tcherniakov die Sache mit Iolanta noch ganz klassisch, beinahe naturalistisch an, so zeigt sich der Zertrümmerer im “Nussknacker” umso deutlicher. 

 

In der Oper genügen ein weißes zweifenstriges, quadratisch geformtes Zimmer und zwei Türen rechts und links, Stil spätes 19. Jahrhundert, als Bühnenbild. Ein paar Stühle, Fauteuils, ein Weihnachtsbaum und fertig ist das Setting, in dem das an sich schon ziemlich kitschig-romantische Drama der mit reiner Willenskraft von ihrer Blindheit erlösten jungen Frau seinen optisch nüchternen Lauf nimmt. Garten samt Rosenbeeten und Sonnenlicht am Ende der Oper gibt es nicht. Mutter Natur traut das heutige Regietheater, wie wir wissen, ganz und gar nicht über den Weg. Dass die Handlung eigentlich in den Bergen des südlichen Frankreich im 15. Jahrhundert spielt, sei hier nur am Rande erwähnt. 

 

Dabei soll es ja so romantisch wie nur möglich sein: Bruder und Librettist Modest Tchaikovsky hat heftig in das Stück “König Renés Tochter” des dänischen Dichters  Henrik Hertz eingegriffen. Es dominiert nicht mehr der intellektuell aufklärerische Gestus des medizinischen Fortschritts, verkörpert vom muslimischen Arzt Ibn Hakia, sondern Nietzsche und Schopenhauer stehen mit ihrer Willenslehre, die sogar Naturgesetze außer Kraft treten lässt,  im philosophischen Fokus der Oper.  

 

Tcherniakov stülpt dem Ganzen nochmals einen Handlungsrahmen darüber. Er lässt die Oper übergangslos in das Ballett münden. Dazu darf Marion Barbeau, die die Marie im “Nussknacker” tanzen wird, schon am Ende von “Iolanta“ auftreten, die Sängerschar herzend und umarmend. Die Familienparty geht im Nussknacker in größerem Ambiente weiter, der Raum erweitert sich über die ganze Breite der Bühne. Hier dürfen zu Beginn Figuren der Oper sich in die tanzende Idylle mischen.

 

In “Iolanta“, wo eine minutiös ausgetüftelte Personenrege im Vordergrund der Inszenierung steht, wird ganz vorzüglich gesungen und gespielt. Sony Yoncheva in der Titelpartie gelingt das im wahrsten Sinne filmreife Kunststück, in Gestus und Mimik die blinde junge Frau, die vorerst von ihrer Behinderung nichts weiß, unglaublich realitätsnah darzustellen. Rein stimmlich hinterlässt die Bulgarin einen noch stärkeren Eindruck als Anna Netrebko, kann sie doch auf die cremige Tiefe und pastose untere Mittellage eine fantastische Höhe mit einem sinnlich leuchtenden, typisch slawischen Vibrato samt goldenen Metallkern bauen. Wehmut und Unruhe werden in den Zügen Iolantas reflektiert. Ihre jähen Stimmungsschwankungen taucht sie in drastisch aufgetragene, doch fein nuancierte Vokalfarben. Ereignishaft.  Das zentrale große Liebesduett wird so auch dank des jungen polnischen Tenors in der Rolle des Vaudémont, Arnold Rutkowski, zu einem Höhepunkt dessen, was Oper an großen Emotionen zu bieten hat. Dieser tenore spinto darf eine großartig timbrierte Naturstimme mit ungestümer Kraft sein Eigen nennen. Rein technisch gäbe es dort und da noch ein wenig zu feilen und zu schleifen, damit die Übergänge freier und die Höhen hoffentlich noch resonanzreicher und lockerer werden.

 

Als Iolantes Vater wirkt der ukrainische Bass Alexander Tsambalyuk, Ensemblemitglied der hamburgischen Staatsoper, beinahe zu jung. Samtig und schlankstimmig wickelt er unablässig seine Fäden um Iolanta, und merkt nicht, dass sie in diesem künstlichen Kokon kein Glück finden kann. In der tiefsten Lage sind der Expansionsfähigkeit seiner Stimme allerdings Grenzen gesetzt. 

 

Den Herzog von Burgund Robert (Andrei Zhilikhovsky mit jugendlich frisch aufblühendem Bariton), Verlobter Iolantas, lässt dieser überbesorgte König ziehen, ist der junge arrogante Muttersohn doch in die Gräfin Mathilde von Lothringen verliebt. Dafür muss der maurische Arzt Ibn-Hakia Iolanta heilen, sonst soll unser schöner burgundischer Ritter Vaudémont sterben. Der italienische Bassbariton Vito Priante leiht dieser durch Modest Tchaikovsky wohl am meisten verkürzten  Figur seine edle, in der Höhe wunderbar aufgehende Stimme. Von den kleineren Partie sind noch die russische Mezzosopranistin Elena Zaremba als Iolantas Amme Marta, sowie Gennady Bezzubenkov als Bertram, Pförtner des Schlosses, lobend zu erwähnen. 

 

Der französische Dirigent Alain Atinoglu holt allen plüschigen Rausch, alle Düsternis, Bedrängnis, final allen Jubel aus der meisterliche Partitur. Das Orchester der Opéra National de Paris bekräftigt einmal mehr seinen Status als das beste Orchester Frankreichs und eines der besten Opernorchester der Welt. 

 

Für den Nussknacker, dessen Libretto der Regisseur komplett werkfremd umgemodelt hat,  sind drei Choreographen aufgeboten: Sidi Larbi Cherkaoui, Édouard Lock und Arthur Pita. Ursprünglich waren fünf vorgesehen, Benjamin Millepied und Liam Scarlett konnten sich noch rechtzeitig von dieser ein Kindermärchen zu einer halluzinierenden Albtraumposse wandelnden Produktion zurückziehen.

 

Im Original haben wir keine Marie und keine 70-ies Geburtstagsparty, sondern Weihnachten mit Mascha. Sie bekommt von ihrem Onkel Drosselmeyer (in der gegenständlichen Aufführung ist das ein Double des Arztes Ibn Hakia aus dem anderen Stück) einen Nussknacker geschenkt. In ihren Träumen treten Spielzeugsoldaten gegen das Heer des Mäusekönigs an. Der Nussknacker gewinnt, verwandelt sich in einen Prinzen, gemeinsam geht es in das Land der Süßigkeiten über den Tannenwald zum Schloss Zuckerburg, wo die Zuckerfee ein Fest veranstaltet. Dann ist wohl Zeit aufzustehen und Mascha erwacht aus ihrem kindlich schönen Traum.

 

 

 

Bei Tcherniakov  trifft Marie auf Robert und Vaudémont, die beiden jungen Männer rund um Iolanta. Die Mischpoke der kleinen Marie ist aber gar nicht mit Vaudémont einverstanden. Dann bricht das Haus zusammen und aus einem schönen Zuckerwattetraum wird eine von Wahnvorstellungen durchsetzte Halluzination um Verlustängste und das Ende der Zivilisation. Zugegeben, da gibt es bildstarke Visionen und Projektionen von Schneestürmen und unter den Füßen weggleitendes Eis zu bestaunen. In vorbeifliegenden Wäldern erblicken wir allerlei Getier sogar ein massig durchmarschierendes  Nilpferd. Auf einer Lichtung trifft Marie auf überdimensionierte Spielpuppen, sowjetische Raumfahrer, Katzen etc. Es wimmelt nur so vor Doppelgängern Vaudémonts. Endlich erkennt Marie, offenbar als Gegenpol zu Iolanta gedacht, die vergebliche Liebesmüh, der geliebte junge Vaudémont ist futsch. Dann ist noch Weltuntergang angesagt, ein Meteor fegt die ganze Erde werde hinweg. Na wenn schon, denn schon. Marie erwacht und ist eine Andere geworden.

 

 Das Pech an der Sache ist nur, dass trotz der technisch exzellenten und ausdrucksstarken Balletttruppe mit Marion Barbeau, Stéphane Bullion, Nicolas Paul, Aurelien Houette, Alice Renavand, Takeru Coste und Caroline Bance die Choreographien bis auf die zwei Pas-de-deux monoton und einfallslos wirken. Außerdem stehen die romantisch harmlose Ballettmusik Tchaikovskys und die apokalyptischen Gruselbilder beziehungslos nebeneinander.

 

 Fazit: Eine vor allem musikalisch ganz ausgezeichnete „Iolanta“ mit einer fulminanten und maßstabsetzenden Sony Yoncheva in der Titelpartie und das bis zur vollkommenen Unkenntlichkeit in Düsternis getunkte Ballett „Der Nussknacker“ wollen sich nicht zu einem Ganzen fügen. Dieser Regieversuch ist somit trotz beeindruckender Momente auf halber Linie gescheitert. Ich glaube nicht, dass an irgend einem anderen Opernhaus sobald die Kombination Iolanta – Der Nussknacker aufgegriffen werden wird.

 

 

Iolanta

 

King René – Alexander Tsambalyuk

Iolanta – Sonya Yoncheva 

Vaudémont – Arnold Rutkowski

Robert – Andrei Jilikovschi

Ibn-Hakia – Vito Priante 

Alméric – Roman Shulakov

Bertrand – Gennady Bezzubenkov

Martha – Elena Zaremba

Brigitta – Anna Patalong

Laura – Paola Gardina

 

Der Nussknacker

 

Marie – Marion Barbeau

Vaudémont – Stéphane Bullion

Drosselmeyer – Nicolas Paul

Father – Aurélien Houette

Mother – Alice Renavand

Robert – Takeru Coste

Sister – Caroline Bance

 

 

Dmitri Tcherniakov (Regie)

Sidi Larbi Cherkaoui, Edouard Lock, Arthur Pita (Choreographie)

Elena Zaitseva (Kostüme)

Gleb Filshtinsky (Licht)

Andrey Zelenin (Video)

 

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

 

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