DVD/Blu-ray PIERRE GAVEAUX: LÉONORE ou L’AMOUR CONJUGAL – gefilmt am 23.2.2017 im Gerald W. Lynch Theater, New York, NAXOS
Diese musikhistorisch interessante Ausgrabung der ursprünglichen französischen Fidelio-Variante zeigt zweierlei: Wie unvergleichlich und unüberbietbar Beethovens Meisterwerk kompositorisch ist, aber auch, dass es nicht aus heiterem Himmel kam. Beethovens Librettisten haben sich jedenfalls umfassend bei Jean-Nicolas Bouilly bedient, dessen Libretto zu „Léonore ou l’amour conjugal“ von Pierre Gavaux (1798) auch Komponisten wie Ferdinando Paër („Leonora“ 1804) und Simon Mayr („L’amor coniugale“ 1805) inspirierte. Bouilly, Rechtsanwalt, Tenor, Schauspieler und Stückeschreiber, behauptete, die Handlung basiere auf einer tatsächlich stattgefundenen Begebenheit während des revolutionären Terrors Robespierres und der Jakobiner in der Provinz Touraine. Wie dem auch sei, die Ingredienzien von Léonore sind Archetypen des frz. Theaters in der Zeit rund um den Sturm auf die Bastille: die dramatische Befreiung aus der Gefangenschaft, Verkleidung, Gefängnisszenen generell, die Verurteilung willkürlicher Tyrannei und die Wiedervereinigung des Liebespaars.
In der ordentlich gearbeiteten konservativen – und damit meine ich werkbezogenen – Regie von Oriol Thomas mit einem kleinen, aus wenigen flexibel verschiebbaren Rahmen und Requisiten bestehenden Bühnenbild von Laurence Mongeau ist eine klassische „opéra comique“ (hat nicht primär etwas mit komisch zu tun) mit gesprochenen Dialogen (die ganz und gar denjenigen im Fidelio gleichen) zu erleben. Die Umgangssprache als auch der Stil der von Marceline, Jacquino und Roc gesungenen Nummern entspricht jedenfalls den Konventionen des vor-revolutionären Musiktheaters, wie etwa das einleitende simple Strophen-Couplet der Marcelline „Fidélio, mon doux ami“. Was die Chornummern und insbesondere das den ersten Akt beschließende Ensemble „Que ce beau ciel“ angeht, hat Gaveaux den revolutionären Zeitgeist reden lassen und sich stilistisch Anleihen aus der lyrischen Tragödie geholt. Erstaunlich, dass dieser „Gefangenenchor“ in der orchestralen Einleitung dem Thema der namenlosen Freude Beethovens zum Verwechseln ähnlich klingt. Allerdings weiß niemand, bzw. ist nicht belegt, ob Beethoven auch die Partitur von Gaveaux‘ Léonore kannte.
Dass Gaveaux mit Florestans deklamatorisch ausgefeiltem Rezitativ und seiner Romanze schon in die Zukunft weist, und schließlich die Form der „opéra comique“ mit der düsteren Kerkerszene und dem jubelnden Finale sprengt, ist heute als musikhistorische Großtat zu werten. Dass er aber als Franzose mit Fidelio die (nachträglich) symbolisch als wichtigster musikalischer Beitrag der Befreiung gegenüber der frz. Aggression Napoleons in Europa angesehene Oper anregte, noch dazu mit einem Finale, das die Wiedererlangung der europäischen Stabilität nach dem Wiener Kongress feierte, ist eine kecke Volte der Geschichte.
Die musikalische Qualität der Aufführung ist gut. Das auf rares französisches Repertoire des 17. und 18.Jahrunderts spezialisierte amerikanische Originalklangensemble „Opera Lafayette“ unter der Leitung von Ryan Brown reüssiert mit einer engagierten Wiedergabe. Die Neubelebung am Gerald W. Lynch Theater at John Jay College in Manhattan kann so mit einer lebendig spielfreudigen, in den Dialogen idiomatischen als auch sängerisch frischen Besetzung aufwarten: Léonore / Fidélio – Kimy Mc Laren, Florestan – Jean-Michel Richer, Roc – Tomislav Lavoi, Marceline – Pascale Beaudin, Dom Pizare – Dominique Côté, Jacquino – Keven Geddes und Dom Fernand – Alexandre Sylvestre.
Fazit: Die 1798 am Pariser Theatre Feydeau uraufgeführte Oper liegt jetzt erstmals auf DVD vor. Eine gute Gelegenheit, sich mit dieser Vorläufer-Oper des Fidelio vertraut zu machen. Aber bitte nicht zu viel an musikalischer Substanz erwarten: Kompositorisch bleibt Gaveaux’ „Léonore“ zu 80% in der Schablone seiner Zeit und im allzu idyllisch Harmlosen stecken, zumal jeder Beethovens überwältigende Musik im Ohr hat.
Dr. Ingobert Waltenberger