DVD/Blu-ray MOZART: DON GIOVANNI – Live aus der Opéra Royal du Château de Versailles vom November 2023
Bei Marshall Pynkoski (Regie) und Christian Lacroix (Kostüme) darf Giovanni noch ein echter Frauenliebhaber sein
Veröffentlichung: 23.8.2024
„Der Don ist ein Cherubino, der zu einem jungen Mann geworden ist.“ Pynkoski
Die Filmaufzeichnung des „Don Giovanni“ aus der Opêra Royal du Château de Versailles lebt optisch vor allem von den einfallsreichen, ästhetisch wunderbaren Kostümkreationen des Christian Lacroix. Der Modeschöpfer kombiniert zeithistorisch Deftiges, der commedia dell‘arte anverwandt, mit typisch französischen Luxusroben für Donna Anna und Donna Elvira. Alte Schnitte, neue Stoffe. In ihrer Farbenpracht und Textur sind die Kostüme wirklich spektakulär.
Die symmetrische Einheits-Bühnenarchitektur hat Roland Fontaine für Niccolò Antonio Zingarellis „Giulietta e Romeo“ und für Mozarts „Don Giovanni“ gleichermaßen entworfen. Im „Don Giovanni“ bleibt das Bühnenbild nach dem Modell des palladianischen Theaters in Vicenza fix, nur beim Besuch des Komturs heben sich effektvoll die mittleren Paneele in blauem Licht. Die Palastwände mit Balkonen gruppieren sich perspektivisch um einen in den Boden eingelassenen riesigen Stern, dem Markenzeichen des Regisseurs. Damit den spezifischen Anforderungen der verschiedenen Handlungsorte atmosphärisch Genüge getan werden kann, ist der Lichtkünstler Hervé Gary gefordert. Ansonsten genügen wenige bewegliche Teile wie Bank, Tisch oder ein stilisiertes Gebüsch zur flexiblen szenischen Anordnung.
Don Giovanni ist in dieser werkgetreuen Lesart weder ein Frauenverächter noch ein sonstwie analytisch irgendwie zurechtgebastelter Psycho. Pynkoski, der Tanz und Barocktheater studierte, nimmt gemeinsam mit seiner Partnerin, der Choreografin Jeanette Lajeunesse Zingg, die Bezeichnung dramma giocoso (=komisches Theaterstück) beim Wort. Mozart hat zudem selbst in einem eigenhändig erstellten Werkverzeichnis Don Giovanni (wie Così fan tutte) als opera buffa eingestuft.
Des Regisseurs Credo: „Letztlich bleibt uns nichts anderes übrig, als Don Giovanni zu lieben, genau wie alle Frauen in Mozarts Oper.“ Für Pynkoski ist er die ehrlichste Figur auf der Bühne. Am Ende, nachdem das Pseudoempörungsquintett „Questo é il fin di chi fa mal, e de’ perfidi la morte alla vita é sempre ugual!“ verklungen ist, steht noch einmal ein schallend lachender Giovanni mitten auf der Bühne, trinkt Wein und zerschmettert sein Glas. Also alles nicht so schlimm.
Neben den optisch prägenden Kostümen ist der Tanz das wesentliche dramaturgische Verbindungselement der Inszenierung. „Die Tänzer des Balletts der Königlichen Oper ziehen sich wie ein roter Faden durch alle Opernszenen.“ Nicht nur in der contredanse paysanne im ersten Akt oder in der berühmten Ballszene, wo Mozart drei Tanzstile (Menuett, deutscher Tanz, Contredanse), ineinander knotet, ist das Ballett aktiv. Vier Tänzer bilden ein tragendes Element der Handlung, sei es als Dienerschaft des Komturs, Spießgesellen des Masetto auf der Suche nach Don Giovanni oder final als Kreaturen der Unterwelt, die Giovanni zur Höllenfahrt in einem großen Tuch verschwinden lassen.
Die Regie nimmt besonders auf die schauspielerischen Feinheiten des Stücks Bedacht und verbindet sie mit einer Choreografie, die jeglicher Erdenschwere entgegenwirkt.
Der kanadische Bassbariton Robert Gleadow ist mit den tiefen Männerrollen im Don Giovanni jetzt durch. Nach Masetto und Leporello – ich empfehle die „Don Giovanni“-Aufführung als Tonkonserve aus dem Théâtre des Champs Elysées vom Dezember 2016 unter Jérémie Rhorer mit dem Orchester Le Cercle De L’Harmonie (erhältlich bei Alpha Classics) – ist Gleadow in der Titelpartie ein wahrhaft unwiderstehlicher Verführer. Als testosterongeladenes gestandenes Mannsbild mit Vollbart und wilder Mähne, viril bis zum Anschlag, ist dieser blendend aussehende Charismatiker das glaubhafte Zentrum in dieser Versuchsanordnung à la Casanova des Duos da Ponte/Mozart. Er beherrscht die Bühne in jeder Sekunde, der Schluss des zweiten Akts mit Elvira, Leporello und dem steinernen Gast ist dank seiner Darstellung einer in den Wahnsinn abgeglittenen Lebensfreude atemberaubendes Musiktheater, das ohne jegliches Beiwerk auskommt. Sein dunkler Bassbariton mit kurzem Vibrato (ähnlich Bryn Terfel) scheint für die Dämonie der Rolle prädestiniert.
Riccardo Novaro gibt Leporello als servilen Diener. Seinem allzu hellen Bariton mangelt es jedoch an Tiefe und Durchschlagskraft, um auch stimmlich überzeugen zu können.
Dagegen reüssiert der fabelhafte Jean-Gabriel Saint Martin, der schon im Kinderchor der Pariser Oper erste Bühnenerfahrungen gesammelt hat, als einmal ganz und gar nicht tölpelhafter Masetto auf ganzer Linie. Eine top Leistung.
Engeurrand de Hys bringt für den Don Ottavio einen kernig, bronzen timbrierten Tenor mit. Leider singt er die meiste Zeit mit Überdruck in der Stimme, worunter insbesondere die leisen Legato-Passagen in den beiden Arien leiden. Vor 10 Jahren hat das noch anders geklungen (bei Youtube mit Klavierbegleitung nachzuhören).
Nicolas Certenais lässt den Komtur bassbrummig erbebend sein höllisches Rachewerk verrichten.
Vokal exzellent ist es um die Damenriege mit der vorzüglichen römischen Sopranistin Arianna Vendittelli als Elvira an erster Stelle bestellt. An Barockmusik geschult, kommen die heiklen Läufe der irre schweren Arie „Mi tradi quell’alma ingrata“ wie am Schnürl.
Auch die aus Montréal stammende Sopranistin Florie Valiquette fühlt sich in Barockopern und hohen bis höchsten Mozartrollen zuhause. Als Donna Anna vermag sie nicht nur die wütenden Ausbrüche und die Koloraturen von „Non mi dir…“, im zweiten Akt bravourös zu bewältigen, sondern überzeugt als zerrissener Charakter (natürlich weint sie Giovanni nach) zudem darstellerisch.
Als Zerlina bringt die Korsin Éléonore Pancrazi mit glockenreinem Ton alle unbeschwerte Listigkeit dieser opportunistischen Figur überzeugend zur Geltung.
Gaétan Jarry dirigiert das in den Violinen bisweilen spitz klingende Orchestre de l’Opera Royal de Versailles mit viel Einfühlung für die Sänger insgesamt gediegen. Seine Stärke liegt in der behutsamen Ausformulierung der Arien und den homogen musizierten Ensembles. Indes hätte man sich größere Spannungsbögen und zwischendurch ein wenig mehr an Feuer gewünscht. Der Schluss der Oper hingegen geriet vorzüglich. Spannend zu hören, was Ronan Khalil am Hammerklavier in den Rezitativen improvisatorisch aus den Tasten zaubert.
Mit einem reich bebilderten dreisprachigen Buch inkl. Libretto versehen, stellt die Box den Opernfilm in den Formaten DVD und Blu-ray zur Wahl. Wenn es eines direkten Vergleichs bedarf, dann bietet sich hier die ideale Gelegenheit, nachzuprüfen, um wie viel brillanter in Bild und Ton es doch um das Format Blu-ray bestellt ist.
Fazit. Eine „klassische“ Aufführung szenisch wie aus einem Guss ohne jeglichen regietheaterlichen Firlefanz. Und siehe da, es geht auch ohne Videoprojektionen. Musikalisch erleben wir eine gute bis vorzügliche Aufführung mit dem Bühnentier Robert Gleadow an der Spitze und einer tollen Besetzung aller Frauenrollen.
Dr. Ingobert Waltenberger