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DVD/Blu-ray: CHARLES GOUNOD „MIREILLE“ – Mitschnitt einer grandios ästhetischen Produktion von Nicolas Joël  aus dem Palais Garnier vom September 2009; NAXOS

11.07.2021 | dvd

DVD/Blu-ray: CHARLES GOUNOD „MIREILLE“ – Mitschnitt einer grandios ästhetischen Produktion von Nicolas Joël  aus dem Palais Garnier vom September 2009; NAXOS

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Der letztes Jahr verstorbene Nicolas Joël  war nicht nur Regisseur, er leitete die Geschicke der Opéra National de Paris von 2009 bis 2014. An der Wiener Staatsoper inszenierte der französische Regisseur “Aida” (1984) und “Daphne” (2004) und zeichnete für das szenische Konzept von “Faust” (2008) verantwortlich.

 

Der schönsten und musikalisch untadeligsten Produktion seiner Ära galt Charles Gounods wunderschöner, noch immer mauerblümchenhafter Oper „Mireille“. Die Einstandspremiere des neuen Intendanten 2009 markierte – unglaublich, aber wahr – das erste Mal, dass diese fünfaktige Oper nach dem Gedicht “Mireio” von Frédéric Mistral an der Pariser Oper aufgeführt wurde. Ich war damals bei der Premiere dabei und habe überaus positive Erinnerungen daran.

 

Nicolas Joël sah in Gounod den bedeutendsten französischen Komponisten des 19. Jahrhunderts, den Meister der nobelsten Gefühle, und in “Mireille” eindeutig dessen Meisterwerk. “Mireille” gilt als Hommage an Kultur und Landschaft des Midi, sie ist eine musikalische Liebeserklärung an die ursprüngliche Kraft des Lebens in der französischen Provence. Die provençalische Sprache, der historische Volkstanz Farandole, die mediterranen Leidenschaften, die Felder, Bauern und Hirten, all das amalgamiert zu den schönsten musikalischen Eingebungen Gounods. Und nicht zu vergessen: “Mireille” weist von Sujet, Kolorit und Tonfall her gewaltig auf Bizets “Carmen” hin. Die herzzerreißende Tenorarie des Vincent im fünften Akt “Mon coeur est plein d’un noir soucil” gehört zu den schönsten der gesamten französischen Opernliteratur.” 

 

Im Zentrum der Oper steht die absolut reine, unschuldige Liebe der aus reichem Hause stammenden Mireille zu dem armen Korbmachersohn Vincent (Inva Mula und Charles Castronovo als  vokal hinreissendes und optisches Traumpaar erfreuen vom ersten bis zum letzte Ton). Eine nicht standesgemäße Heirat bei Bauern war damals unmöglich. Also nimmt das tragische Stück seinen Verlauf wie die Naturgewalten eines provençalischen Gewitters. Ourrias, ein erfolgreicher Stierkämpfer in den typisch südfranzösischen “Courses de Taureaux” (Franck Ferrari als grobkotziger Macho – die vorliegende Publikation ist auch in Andenken an diesen 2015 verstorbenen Sänger erfolgt) will auf einem Volksfest um die Hand von Mireille anhalten, wird aber zurückgewiesen. Mireilles Vater Ramon (Alain Vernhes großartig als eleganter, autoriärer Patriarch) verflucht Vincent und verbietet seiner Tochter, Vincent je wiederzusehen. Ourrias verletzt Vincent aus Rache schwer mit einem Dreizack. Er wird dafür von der guten Hexe Taven (Sylvie Brunet mit schlank-dunklem Mezzo) verflucht und ertrinkt umgeben von Geistern in der Rhône. Mireille unternimmt eine Wallfahrt zur Kirche von Saintes—Maries, um für Vincents Gesundung zu beten. Aber die unwirtliche Ebenen von Crau und der Camargue fordern ihren Tribut. Erschöpft und im Delirium stirbt sie in den Armen von Vincent vor der Kapelle von Les-Saint-Marie-de la-Mer. Ähnlich wie im Faust hören wir eine himmlische Stimme, die der armen Seele ewiges Glück im Himmel verkündet. 

 

Nicolas Joël setzt auf einen poetischen Realismus und die archaisch zugespitzte Zeichnung der einzelnen Figuren. Ein Triumph der sorgsamen Personenregie. Sein Konzept erweist sich als ideales Pendant zur rhythmisch und lautmalerisch so überaus reizvollen Musik und beschwört so den in magische Töne gegossenen Genius loci des Stücks. In den atmosphärischen dichten Bühnenbildern von Ezio Frigerio begegnen wir lichtdurchfluteten Weizenfeldern, brüchigen Steinmauern, einer silbrig schillernden Rhône, der Treppe zur Kirche, wo Mireille, den Blick auf das Meer gerichtet, stirbt. Eine vielfältig beige-blaue Farbpalette der sonnengetränkten bis nächtlich unheimlichen Landschaft bildet den atmosphärischen Hintergrund des Stücks. Gounod selbst galt ja als ein hervorragender Zeichner, der mit seinem Talent sogar Ingres beeindruckte und dessen visuelle Eindrücke sich intensiv in die Komposition gefräst haben. 

 

Als Glücksfall der Produktion erweist sich Dirigent Marc Minkowski, der all den volkstümlichen Melodien und Tänzen, aber auch den hochromantisch düsteren Teilen der Partitur mit dem akzentreich und äußerste Emotionen intensiv beschwörenden Orchestre de l’Opéra National de Paris in hohem Maße gerecht wird. Da zirpen die Grillen, der melodische Duft des Landes macht sich breit. Feenhafte Stimmungen à la Mendelssohn inklusive phantastisch spukhafter Elemente nehmen märchenhafte Gestalt an, die Orchesterfarben mischen sich mit jenen der Bühne. Der Chor der Pariser Oper (Einstudierung Patrick Marie-Aubert), dem die Partitur eine Hauptrolle zuweist,  erhebt klangmächtig des Volkes Stimme. In kleineren Rollen reüssieren Anne-Catherine Gillet als Vincenette, Sébastien Droy als Andreloun, Nicolas Cavallier als Vincents Vater Ambroise, Amel-Brahim Djelloul als Clémence, Ugo Rabec als Fährmann, Christian Rodrigue Moungoungou als Arlésien und Sophie Claisse als Stimme von oben. 

 

Der Filmregisseur François Roussillon trägt mit seiner hochprofessionellen, perspektivenreichen Kameraführung und einer spannenden, niemals zu kleinteiligen Schnittechnik dazu bei, dass aus dem Video ein bewundernswert selbständiges Kunstprodukt geworden ist. Der Film bildet die Theateraufführung nicht bloß irgendwie routiniert ab, sondern bietet Tableaus großer Gefühle, einfach große Oper. Für ein tränenreiches Finale ist garantiert. 

 

Dr. Ingobert Waltenberger 

 

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