DVD Beethoven FIDELIO in der Regie von Jan Schmidt-Garre, Theater St. Gallen März 2018; EUROARTS
Dem deutsche Regisseur Jan Schmidt Garre, den manche als Urheber des superschrägen Films „Opera Fanatic“ (mit Interviews aller damals noch lebenden vorwiegend italienischen Primadonnen) kennen werden, beim Dirigenten Sergiu Celibidache studierte und den mythischen Rumänen auch in einem schönen Film verewigt hat, ist in St. Gallen ein tiefgründiger, geometrisch choreographierter „Fidelio“ gelungen. Die zumeist kleinen Bewegungen, die wunderbar eingefangenen Blicke, also die Beziehungen der Personen zueinander, stehen im Zentrum der dramaturgischen Konzeption. Es ist ein Kammerstück der Gefühle, der Utopien fern jeglichen erzählerischen Realismus‘ geworden. Vielmehr umkreisen einander in unauflöslichen emotionalen Zirkeln die Personen des Stücks in dieser brutalen Atmosphäre von Tyrannei und in der Luft liegender Revolution. Manchmal scheinen die Sängerinnen und Sänger statisch wie zu einem Familienfoto im Zentrum der vorderen Bühne tableauhaft erstarrt.
Im Gespräch mit Caroline Damaschke erläutert Schmidt-Garre seinen eigenen roten Faden in dieser im kleinbürgerlichen Milieu startenden Oper: „In jeder Nummer wollen die Leute mehr, als sie sagen. Da sei immer ein Überschuss komponiert, es gibt immer einen Moment des Hinaus, Hinüber, des Wunsches nach einer besseren Welt, also das, was Ernst Bloch so fasziniert und ihn zu seinem „Prinzip Hoffnung“ inspiriert hat.“ Die Bühne des Set-Designers Nikolaus Webern ist auf in die Tiefe des Bühnenraums gestaffelte verschiebbare graue Wände reduziert, ein einfacher Holzstuhl steht da, ein grünbelaubter Ast ist zu sehen und ein Podest, das für die visionäre Leonore in den Momenten, wo sie nicht an der Bühnenaktion beteiligt ist, reserviert ist. Die schwarzen Kostüme von Yan Tax spiegeln zunächst die Schnitte der Biedermeierzeit, nur Leonore ist hier nicht als Mann verkleidet, sondern trägt ein schlichtes rotes Kleid aus dem Hier und Heute. Die anderen Protagonisten tragen mehrere Kleiderschichten. In den Momenten des utopischen Überschusses legen sie eine Schicht nach der anderen ab. Die herumliegenden Kleider als Metapher der Auflösung, damit einer sich ankündigenden Revolution, lassen Pizzaro als im Gestern stecken gebliebenen Verlierer zurück. Aber wir dürfen uns auch nicht erwarten, dass Leonore und Florestan o der Marzelline und Jaquino jetzt wieder in Glück und Harmonie ihr weiteres Leben verbringen werden. Die Utopie frisst ihre Kinder. Florestan ist nach der klugen Analyse des Regisseurs nicht mehr der charismatische Mann, den Leonore geliebt hat, viel zu große Spuren hat das Gefängnis bei ihm hinterlassen. Fazit: „Die Menschheit ist erlöst, aber die Menschen sind dabei auf der Strecke geblieben.“
Gespielt wird die finale Fassung aus dem Jahr 1814 und damit ohne die „Gold-Arie“ des Rocco, die Beethoven schon in der zweiten Fassung von 1806 gestrichen und später nicht mehr eingefügt hat. Otto Tausk dirigiert das Sinfonieorchester und den Opernchor St. Gallen mit kammermusikalischer Transparenz und dennoch hoher dramatischer Dichte. Die Besetzung wird angeführt von der Leonore der wie entrückt wirkenden Jacquelyn Wagner. Die amerikanische lyrische Sopranistin mit jugendlich dramatischem Impetus singt mit klarer Stimme und technisch vollkommen die so anspruchsvolle Rolle der Leonore. Jeder Ton sitzt sensationell, die Ausdrucksintensität schöpft sie ganz aus der präzisen Realisierung der Partitur. Da ihr der Regisseur die visionäre Überhöhung, den philosophischen Gehalt der Oper (er zieht gar den Vergleich mit Jeanne d‘Arc) in Haltung und Geste geimpft hat, entstehen seltsam abstrakte Bilder mit überwältigender Kraft und zugleich kühler Eindringlichkeit. Das schöne Gesicht der Sängerin, ihre intime Mimik, das Schattenspiel in den Großaufnahmen, all das wandelt sich zur seelischen Landschaft, der topographischen Sehnsucht einer ganzen Epoche. Jacquelyn Wagner ist ein blühender Stern am Opernhimmel, sie wird u.a, Thielemanns Eva in den Meistersingern bei den Salzburger Osterfestpielen 2019 sein. Ihr Florestan ist Norbert Ernst. Zu Beginn seiner Arie im zweiten Akt sieht man nur Leonore, ihre Gefühle verkörpern sein Leid. Norbert Ernst verfügt über einen hellen, silbern metallisch auftrumpfenden Tenor, die Gebrochenheit der Figur mit der berühmten Träne in der Stimme eindringlich manifestierend. Wojetk Gierlach mit seinem samtenen, klangschönen Bass gestaltet als Rocco das Porträt eines empathisch mitfühlenden Zeitgenossen. Ein Pfundskerl, von dem man sicher noch sehr viel hören wird. Sein Deutsch in den Dialogen könnte allerdings besser sein. Marzelline und Jaquino dürfen sich bei Tatjana Schneider und Riccardo Botta in sympathisch jugendlicher Emphase verströmen. Roman Trekel kann als Pizarro ganz aus der Zeit gefallener Bösewicht, Verkörperung der überkommenen autokratischen Herrschaft sein. Sein Charakterbariton erspürt die richtigen düsteren Farben, so kann er die stimmlichen Defizite, das Brüchige in der Stimme geschickt camouflieren. Martin Sommer gibt einen harmlosen, blassen Minister, schon die schablonenhafte Rolle gibt ja bekanntlich nicht viel her.
Der Medientransfer vom Bühnenstück zum Film ist Jan Schmidt-Garre in hohem Maße geglückt. In ruhiger Schnittführung kommt das Oratorienhafte der Oper, ihr kontemplativer Kern in der übersteigerten politischen Dramatik gut zum Ausdruck. Es gibt keinen Szenenapplaus, etliche Einstellungen/Close-ups wurden ohne Publikum gedreht. Insgesamt ist ein großer, bewegender Opernfilm in einer erstklassigen musikalischen Umsetzung zu bestaunen.
Auf einer Bonus DVD sind aufschlussreiche Gespräche von Christoph Schlüren mit Jacquelyn Wagner, Norbert Ernst, Wojteck Gierlach, dem Dirigenten Otto Tausk und natürlich dem Regisseur Jan Schmidt-Garre zu sehen.
Dr. Ingobert Waltenberger