„Zu sehen und das beste geben ist besser, als blind zu sein“
Der kanadische Komponist Zane Zalis appelliert mit seinem Oratorium für Menschlichkeit gegen das Vergessen. „I Believe“ liegt jetzt auch als CD vor.
Der Holocaust hat sich als monströseste Erfahrung ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Vor 75 Jahren wurden die Konzentrationslager der Nazis befreit.Adorno schrieb, es sei nie wieder Poesie möglich danach. Für nachwachsende Generationen schuf der kanadische Komponist Zane Zalis sein Menschheitsoratorium „I Believe“. In Kanada, Polen und Deutschland überwältigte es junge Menschen ebenso, wie sich überlebende Zeitzeugen verstanden fühlten. Jetzt liegt eine CD-Veröffentlichung von Zane Zalis Oratorium „I Believe“ vor – ein Mitschnitt aus der Historischen Stadthalle Wuppertal im Jahr 2019.
Sie leben als internationaler Künstler in Winnipeg und eben nicht in einer der einschlägigen Musikmetropolen. Was macht den Reiz des kanadischen Nordens aus?
Winnipeg ist eine große, kleine Stadt. Die Winter sind kalt und lang. Was kann man dann besser tun, als ausgedehnt Musik zu machen? Wir alle kennen und schätzen uns. Der Reiz liegt darin, hier zu arbeiten und von hier aus woanders hin zu gehen. Ich habe hier eine wundervolle Kindheit erlebt, fast wie Huckleberry Finn in der großen Weite.
Beschreiben Sie Ihre frühen musikalischen Prägungen!
Ich stamme aus einer ukrainischen Familie aus dem ländlichen Raum. Alle waren sehr musikbegeistert. In unserem Haus war die slawische Tradition der ukrainischen Volksmusik sehr präsent. Ich wollte als erstes das Akkordeon lernen. Später kam alles mögliche dazu: Natürlich klassische Musik. Ich entdeckte aber auch die Bassgitarre und den Jazz. Aber vor allem wuchs meine Liebe zu Sinfonieorchestern.
Was war für Sie der Anlass für eine Komposition über den Holocaust?
Im Jahr 2004 sollte an der Universität von Manitoba ein neues Institut namens Arthur V. Mauro Institute for Peace & Justice eröffnet werden. Man könnte es am ehesten als Lehrstuhl für Friedensforschung beschreiben. Es gab zu diesem Zeitpunkt weltweit nur ein knappes Dutzend Institutionen, wo das gesellschaftliche Zusammenleben und der achtsame Umgang miteinander erforscht werden. Man kann hier sogar einen akademischen Titel in der Disziplin „Peace and Justice“ erwerben. Ich wurde gefragt, ob ich eine musikalische Eröffnungsveranstaltung kreieren könnte. Die Herausforderung war groß: Es musste thematisch zum Anliegen dieser Institution passen, die klären und verstehen helfen will, wie unsere Zukunft in den nächsten 15 bis 20 Jahren aussehen könnte im Hinblick auf Frieden, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte.
Mein persönlicher Ausgangspunkt war zudem die Lektüre des Buches „A Problem From Hell“ von Samantha Power. Sie hat Völkermorde im Dritten Reich, ebenso bei den Roten Khmer und auch in Ruanda analysiert. Die Lektüre traf mich tief und setzte einen Prozess in Gang. Resultat dieses Prozesses war schließlich das Oratorium „I Believe“.
Wie ging es weiter bis zur Realisation?
Wie ließ sich hier eine Geschichte erzählen? Ich schrieb eine Ouvertüre, es entstanden Streicherparts, ich entwickelte rhythmische Strukturen, entwarf die Solostimmen und Chorsätze. Die narrative Vielschichtigkeit kam von selbst. Es sollte ja eine Vielfalt an Erfahrungen und Themen wiederspiegeln: Es geht um das Leid, die Trauer, das Erlebnis einer Flucht über den Atlantischen Ozean, die schließlich vergeblich ist. Der kompositorische Prozess weitete sich dank vieler engagierter Fürsprecher aus. Vor allem Harold Buchwald, ein angesehener Jurist sowie Arnold Frieman, ein Überlebender des Holocaust und Geschäftsmann brachten die Arbeit entscheidend voran.
Wie reagierten alle Beteiligten, als sie die Partitur zum ersten Mal spielten?
Es waren unter anderem fast 300 Highschool-Studenten für die Gesangsparts involviert. Ich hatte sie aufgefordert, nicht nur die Noten zu lesen, sondern Bilder in ihren Köpfen zu kreieren. Stellt euch die Szenarien vor, auch wenn sie schlimm sind! Es funktionierte, es packte die Menschen und die Rezeption war überwältigend.
Es ist auch ein Kinderchor beteiligt. Was für eine Erfahrung ist es, mit Kindern ein Werk über den Holocaust einzuüben?
Ich habe hier einige der bewegendsten Momente in meinem Leben und als Musikpädagoge gemacht. Ich erinnere an eine Mutter, deren zehnjähriges Kind mitwirkte. Sie erzählte mir, die Kleine konnte nicht schlafen und beide weinten die ganze Nacht. Aber letztlich half die Mutter dem Kind dabei, ein Gefühl zu entwickeln, dass dies ein gutes, befreiendes Weinen ist.
Weil die Musik von „I Believe“ eine Halt gebende Kraft ist – und eben nicht depressiv wirkt?
Viele sagen, dass „I Believe“ die Menschen in ein Stadium von Hoffnung führt. Da ist zwar Dunkelheit, aber die Musik baut eine Brücke, die aus ihr heraus führt – und das, ohne die Dunkelheit zu vergessen.
Wie haben Zeitzeugen reagiert?
Zum Glück haben auch Überlebende des Holocaust die Aufführungen erlebt. Sie sagen übereinstimmend, dass es noch nie so etwas wie dieses Stück gab. Es berührte sie tief und es schien, als hätte es die Emotionalität sämtlicher gemachter Erfahrungen erfasst.
Wie haben Sie die Aufführung in Wuppertal erlebt, bei der die CD aufgenommen wurde?
Es war spektakulär und kraftvoll. Bernhard Steiner ist ein wundervoller Dirigent. Die Halle ist großartig, das Orchester hervorragend. Es braucht gute Spieler, die das Werk auch fühlen. Und ich bin natürlich unendlich dankbar, dass ich solche begnadeten Solostimmen habe: Tenorsänger Jean-Pierre Ouellet und Marko Zeiler sind beeindruckende Charaktere auf der Bühne. Kelsey Cowie ist einfach herausragend mit ihrer unglaublichen Stimme.
Kelsey Cowie hat eine sehr jung wirkende Stimme und ihr Gesang hat durchaus etwas musical-haftes. Nimmt „I Believe“ damit bewusst eine bestimmte Zielgruppe in den Blick?
Meine wichtigste Zielgruppe sind junge Menschen. Kelseys Stimme spricht alle Altersgruppen an. Sie setzt ganz bewusst nicht diese kunstvoll ausgebildete Gesangstechnik der Oper ein. Dafür ist sie eine hervorragende Jazzsängerin. Kelsey hat hier den Nerv getroffen.
Adorno hat gesagt, nach Auschwitz ist es nicht mehr möglich, Gedichte zu schreiben. Was würden Sie Adorno antworten?
Zunächst einmal stimme ich Adorno zu: Nichts reicht annähernd an den Holocaust als menschliche Erfahrung heran. Ganz gleich, ob es um den Massenmord, die Qualen, die Bedingungen für das Überleben oder um die Täter geht, die unvorstellbar schlimme Dinge getan haben. Aber: Wir als heutige Menschen können nicht mehr dort sein und all dies selbst erfahren.Wir haben eine große Verantwortung, dafür zu sorgen, dass dies nie wieder geschieht, indem wir uns als einfühlsame und mitfühlende Menschen weiterentwickeln und verbessern.
Unsere heutige Aufgabe ist es, unser Verständnis der Menschen untereinander immer weiter zu entwickeln. Dazu brauchen wir Kunst, Poesie, Musik, Theater und Malerei, denn sie können ein Tor zur inneren Welt anderer Menschen sein, zu einer Welt intensiver Gefühle und Emotionen, die unsere Existenz, unsere Werte und Überzeugungen unterstreichen. Das Schlimmste wäre in diesem Fall, sich von der Erinnerung an die Gefühle anderer abzuwenden und das Leiden anderer auf eine Statistik zu reduzieren. Zahlen und Kategorien vermindern unsere Menschlichkeit. Deshalb brauchen wir die Kunst, deshalb schrieb ich „I believe“. Wir müssen versuchen, die Welt der anderen zu fühlen.
Adorno hat recht: Wir können niemals ein Gedicht schreiben, so als wäre der Holocaust nicht passiert. „I Believe“ erzählt nicht „die“ Geschichte des Holocausts zu erzählen, sondern „eine Geschichte.“ Das ist ein großer Unterschied. Es geht im großen und ganzen darum, an Humanität zu appellieren durch den Blickwinkel des Holocausts. Die Botschaft ist: Schaut darauf, wer ihr seid und bildet euch bloß nicht für eine Sekunde ein, ihr wäret unter bestimmten Vorzeichen nicht fähig zu so etwas!
Die Texte von „I Believe“ nehmen in ausgewogenem Wechsel die Perspektive der Opfer und der Täter ein. Warum?
Täter und ihre Opfer waren gleichermaßen menschliche Individuen. Mich macht es wütend, wenn Menschen einfach sagen, Hitler, Goebbels, Heydrich etc. seien „Monster“ und es damit bewenden lassen. Sobald wir beginnen, diese Figuren zu etikettieren, schaffen wir eine psychologische Distanz. Wir machen es uns zu leicht, indem wir Dinge kategorisch von uns weisen und aus unserer eigener Menschlichkeit verbannen. Es ist sehr wichtig zu verstehen, dass auch diese Täter Menschen waren, die Entscheidungen trafen, auch wenn diese ungeheuerlich böse waren. Es geht um Eigenverantwortung. Wir können imaginär zum Stacheldrahtzaun von Auschwitz gehen und in dieser moralischen Disziplin unser bestes geben.
Was kann Musik leisten?
Ich kam zur Musik, weil ich spezifische Empfindungen habe, die nicht mit einfachen Worten zu erklären sind. Jeder Moment aus „I Believe“ bewegt mich und genau das möchte ich mit anderen Menschen über alle Grenzen von Ort und Zeit hinweg teilen. Wir fühlen als Menschen – und sollten diesen Aspekt nicht negieren, sondern ihm stattdessen viel Raum geben.
Zum Ausklang nochmal etwas Biografisches: Von 2006 bis 2018 haben Sie das Murau-Festival geleitet, welches leider im letzten Jahr eingestellt wurde. Was machte dieses Festival aus?
Ich habe die Atmosphäre einer kreativen Offenheit in Murau, einem idyllischen Ort in den Steirischen Alpen extrem genossen. Die Philosophie dieses Festivals kam meiner neugierigen Offenheit in vielfacher Weise entgegen: Hier trafen hochkarätige Musiker aufeinander. Es gab Kompositionswettbewerbe und Kammermusikprojekte und kaum stilistische Grenzen. Ebenso hatte hier mein Oratorium NOSTOS seine Österreich-Premiere. Aber es war hier auch Jazz und Pop präsent. Ich weiß bekanntlich ein Stevie-Wonder-Stück“ genauso zu schätzen wie eine Brahms-Sinfonie – das alles ist doch gleichermaßen Seelenfutter!
Stefan Pieper
CD
Zane Zalis
I believe – An Oratorio for Today
ARS Produktion 2020
Komponist: Zane Zalis
Solisten: Kelsey Cowie (Sopran), Jean-Pierre Ouellet (Tenor), Marko Zeiler (Tenor)
Solitude-Chor Stuttgart (Einstudierung Klaus Breuninger)
Chor der Konzertgesellschaft Wuppertal (Einstudierung Georg Leisse)
Leverkusener Kinder- und Jugendchor (Einstudierung Nicole Jers, Martin te Laak)
Sprecher: Stefan Müller-Ruppert
Bayer-Philharmoniker
Dirigent: Bernhard Steiner
Übersetzung der Liedtexte ins Deutsche: Kristin Rheinwald, Stefanie Schwiebert