Blu-ray: UMBERTO GIORDANO „ANDREA CHENIER“ – Live Mitschnitt aus der Mailänder Scala vom Dezember 2017 mit Anna Netrebko, Yusif Eyvazov und Luca Salsi in einer Inszenierung von Mario Martone; major
Große Kostüm- und Ausstattungsoper in der von Riccardo Chailly spannungsvoll und detailgenau dirigierten Scala-Eröffnung
Optisch prunkvoll und luxuriös war sie in der Tat, diese Premiere am 7.12.2017 in Mailand. Auf dem Programm stand die ebenda 1896 uraufgeführte veristische ‚Revolutionsoper‘ “Andrea Chenier” von Umberto Giordano auf ein Libretto von Luigi Illico. Wenn Italien für qualitätsvolle elegant-glatte Schönheit in Design und Mode steht, dann trifft das sicher ebenso für die gediegen gearbeitete konservative Produktion des Film- und Theaterregisseurs Mario Martine zu, in der Ursula Patzig sich mit ihren an der Zeit des späten 18. Jahrhunderts in Paris inspirierten grandiosen Kostümen in das Gedächtnis des Publikums einschreiben kann. Und es schafft wirklich nur italienische oder französische Schneiderkunst, dass selbst Lumpenhosen mit handtellergroßen Löchern wie teure Designerware aussieht.
Das erstklassige Scala -Orchester unter der musikalischen Leitung von Riccardo Chailly ist der wahre Star des Abends. Wie dieser grandiose Dirigent seit seinem Amtsantritt 2015 als musikalischer Direktor der Scala das Orchester zu einem der technisch brillantesten Klangkörper in der ersten Oberliga getrimmt hat, ist bewundernswert. “Andrea Chenier“ bezieht seine Attraktion bis heute ja nicht nur über die unsterblichen Arien- und Duett-Hits oder den herzerweichenden melodischen Einfällen, sondern verdankt sein Interesse auch der instrumental meisterlichen Partitur. Ob höfisch-barockes Menuett, romantische Emphase oder grelle Revolutionsrhetorik, Giordano verstand die einander widerstreitenden Stile zu einem instrumental höchst differenzierten, stringenten Ganzen zu formen. Chailly setzt bei seiner Interpretation nicht auf den plakativen vordergründigen Effekt, sondern gewinnt der Partitur oft impressionistisch feine Züge ab, er legt Wert auf Piani und formt trotz beeindruckender Detailtreue wunderbar weit gespannte Bögen. Vor allem ist er den Sängern ein exzellenter und behutsamer Begleiter, der die gesamte Ensembleleistung über das Hätscheln von Stars stellt. So lässt er weder Zwischenapplaus zu, noch gibt es am Ende der Aufführung Einzelvorhänge. Was andernorts übertrieben erscheinen mag, ist in Anbetracht der nicht immer objektiven und immer wieder revanchistisch auf Skandal samt Pfiffen gestimmten „loggionisti“ doch verständlich.
Zumal die Titelpartie mit keinem Tenorsuperstar wie Jonas Kaufmann besetzt ist, sondern mit dem Ehegatten der russischen Soprandiva, dem braven und tapferen Yusif Eyvazov. Dabei bietet der aserbaidschanische Sänger, der beginnend mit dem allzu herben Timbre, der unruhigen Stimmführung, von Charisma und Bühnentemperament her alles andere als ein glänzender Held ist, eine insgesamt vokal feine Leistung. Er hat spürbar hart an der tadellosen Phrasierung gearbeitet, ist hochmusikalisch und intoniert extrem sauber. Seine große Arie im vierten Akt “Come un bel dí di maggio” ist technisch mustergültig gesungen, aber eben nicht mehr als das. Störend ist zudem Eyvazovs häufiger Kontrollblick zum Dirigenten, was njcht nur im finalen Duett im vierten Akt viel an Atmosphäre raubt. Überhaupt: Wo bleiben das Forsche und Leidenschaftliche im Auftritt, das idealistisch Auffahrende eines von sozialer Gerechtigkeit und politischer Gleichheit träumenden Poeten? Ist es nicht die ans Mark gehende Entäußerung von Sängern des Schlags eines di Stefano, Franco Corelli oder Placid Domingo, die den Zauber und die unvergängliche Faszination der Oper und damit ihre Legitimation ausmachen?
Stimmlich Vorsicht walten lässt auch die in den üppigen Kostümen matronenhaft wirkende, von der Rampe aus agierende Anna Netrebko als Grafentochter Madeleine. Ihr dunkel samtig timbrierter dramatischer Sopran mit mühelos anspringender Höhe ist zwar ideal für die Rolle der zwischen Stand und Liebe zerrissenen Figur, den großen Ausbrüchen und überwältigenden Höhepunkten der Partitur lässt es Netrebko jedoch an letzter Überzeugung und Risiko fehlen.
Den vom Diener zum Revolutionsführer mit Herz avancierten Carlo Gérard alten Schlags gewinnt Luca Salsi heldische Baritonattacke ab. Er ist der einzigen der drei Protagonisten, dem ich trotz der vokal pauschalen Herangehensweise am ehesten die Quintessenz der Rolle abnehme.
Von den kleineren Rollen stechen Annalisa Stroppa als Dienerin Bersi, Judit Kutasi als Madelon und vor allem die robuste Mariana Pentcheva als herrische Contessa di Coigny hervor.
Zum Video: Die Bildregie ist vorzüglich gelungen, vor allem erfreuen die abwechslungsreichen Perspektiven auf die Bühne mit manch ungewöhnlichem Einblick von oben. Der Ton- und Bildqualität fehlt es an Brillanz.
Fazit: Ein durchwegs gut gesungener und erstklassig dirigierter Opernabend, der Teile des Publikums nicht zuletzt wegen der werkgetreuen optisch opulenten Ausstattung begeistern wird.
Dr. Ingobert Waltenberger