Blu-Ray: NIJINSKY – Ballett von John Neumeier; major
Live Mitschnitt aus der Hamburger Staatsoper 2017
Die Geschichte ist der Tanz, der Tanz die Geschichte. Ist es Nijinsky, der wahnsinnig wird? Es ist die Welt, die wahnsinnig wird. „Nijinskys Leben lässt sich einfach zusammenfassen: zehn Jahre Wachsen, zehn Jahre Lernen, zehn Jahre Tanzen, dreißig Jahre Finsternis“, formulierte einst der Biograf Richard Buckle. Das Wirken und Leben des Jahrhunderttänzers Nijinsky ist für John Neumeier seit seiner Jugend ein Thema. In seinem über diesen Mythos des Tanzes erarbeiteten Ballett geht es um die Biografie einer Seele, verwoben aus Erinnerungen und Assoziationen, Empfindungen und Zuständen. John Neumeiers choreografische Annäherungen in zwei Teilen wollen eine Gegenwart aus der Vergangenheit schaffen mit neu bestimmten Kräfteverhältnissen und Spannungsfeldern, die Nijinskys Magie auf der Bühne ebenso einfangen wie seine Gefährdungen jenseits des Theaters. Mit 29 Jahren verlässt Nijinsky die Bühne endgültig, Wahnsinn befällt ihn…. 1950 stirbt Nijinsky on London.
Das Hamburger Ballett mit Alexandre Riabko, ukrainischem Tanzstar, an der Spitze, visualisiert zu Musik von Chopin, Schumann, Rimsky-Korsakov (Scheherazade) und Shostakovich (Sonate für Viola und Klavier Op. 147, Symphonie Nr. 11 „Das Jahr 1905“) also Nijinskys Gedanken, Rückblende und Wahnvorstellungen seines letzten Auftritts („Hochzeit mit Gott“), der am 19. Jänner 1919 in St. Moritz stattfand. John Neumeiers Arbeit aus dem Jahr 2000 lässt Nijinsky seine Jahre beim Ballets Russes Revue passieren, seine Schwester Bronislawa, der ältere Bruder Stanislaw und die Mutter Eleonora Bereda erscheinen in seinen Träumen. Auch Serge Diaghilew, Mentor, Impresario und Liebhaber, darf im Tableau nicht fehlen. Tänzer der Kompanie führen Teile seiner wichtigsten Rollen auf: Harlequin aus den „Sylphides“, dann seinen größten Erfolg, nämlich den Goldenen Sklaven aus „Scheherazade“ oder das Puppenwesen „Petrushka. Die Frau in Rot, Romola de Pulszky, seine spätere Gattin, taucht in seinem Gedächtnis auf, es vermischen sich Visionen ihrer Untreue mit alptraumhaften Szenen des Ersten Weltkriegs. Die skandalträchtige Premiere seines Balletts „Le Sacre du printemps“ (Stravinksky) wird der Brutalität des Krieges und dem Tod seines Bruders Stanislaw gegenübergestellt. Romola begleitet ihn durch schwierige Zeiten. Der letzte Tanz gilt dem Krieg.
Natürlich ist der Tanz als solcher das eigentliche Hauptthema des Balletts. Nijinskys Genie, seine Experimente und die Kreation einer neuen choreografischen Sprache bilden dazu die Kulisse, tänzerische Virtuosität, Grazie, Sprungtechnik oder ein erstaunlicher Formen- und Variationenreichtum faszinieren immer wieder aufs Neue. Neumeier wollte seine Arbeit nicht als Handlungsballett verstanden wissen, er wolle vielmehr eine Gegenwart aus der Vergangenheit schaffen: neue Bezüge, Kräfteverhältnisse und Spannungsfelder, choreografische, emotionale und menschliche und solche zwischen Musik und Bewegung. Dass ist ihm auch gelungen.
Aus dem insgesamt märchenhaft guten Ensemble ragen Alexandre Riabko als Vaslav Nijinsky, Aleix Martínez als sein Bruder Stanislaw und Silvia Azzoni als Ballerina Tamar Karsavina heraus. Licht, Set und Kostüme tragen zu dem zauberischen Gesamteindruck bei, den diese auch von Kameraführung und Bildregie her grandiose HD-Verfilmung beim Zuseher hinterlässt.
Als Bonus gibt es ein ausführliches Interview mit John Neumeier.
Dr. Ingobert Waltenberger