Blu-ray JAQUES OFFENBACH „LA VIE PARISIENNE“ – Live Mitschnitt der spektakulären Inszenierung von Christian Lacroix aus dem Théâtre des Champs-Elysées vom Dezember 2021; NAXOS
La galanterie française – flott, frivol, geistvoll, stilecht!
Heiterer Stimmung sein, sich amüsieren, sich eine schöne Zeit machen, und das ganz nach Pariser Art. Das hatten sicherlich Jacques Offenbach und seine Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy als auch Helmut Baumann im Sinne, als er vor 43 Jahren an der Wiener Volksoper „Pariser Leben“, stark gekürzt und in deutscher Sprache mit den Ensemble-Diven Sigrid Martikke, Mirjana Irosch und Elisabeth Kales, den Herren Peter Minich, Ernst Gutstein und Adolf Dallapozza sowie dem Gaststar Martha Mödl als verwitwete Hausbesitzerin Madame de Quimper-Karadec inszenierte. Ich als studierender Jungspund war entzückt über das ganze Piff Paff Puff, die moussierende Musik, den verrückten Plot.
Gefühlte Lichtjahre später und wohl auch interpretatorisch wie optisch in einer anderen Galaxie angesiedelt, ist nun erstmalig die vollständige Version vor Zensur dieser so schlüpfrigen wie gesellschaftskritischen Operette „Pariser Leben“ in einer überschäumend gespielten wie musizierten Aufführung aus dem Théâtre des Champs-Élysées vom Dezember 2021 auf Konserve (Blu-ray/DVD) erhältlich. Vom Filmer François Roussillon hochwertig mit der Kamera in einem kurzweiligen Mix aus Kameravollen und Nahaufnahmen eingefangen, kann sich Mann und Frau nun allezeit königlich über die Missgeschicke des „Touripaars“ Baronne Christine und Baron de Gondremarck, Gutsbesitzer aus Schweden, in einer turbulenten Offenbach‘schen Verwechslungs- und Erotikparodie amüsieren.
Denn nicht zuletzt die so wichtigen und devisenbringenden ausländischen Gäste der eigentlich für die Pariser Weltausstellung 1867 bestellten Operette (die rasche Arbeitsweise Offenbachs ermöglichte die Uraufführung allerdings schon für das Jahr 1866) kommen im „Pariser Leben“ alles andere denn gut weg. Da gibt es den reichen Brasilianer Pompa di Matadores (köstlich Éric Huchet als der im fünften Akt die finale Party schmeißende eitle Popanz) und natürlich die Gondremarcks (Franck Leguérinel mit blond gelockter Langhaar-Perücke in der Rolle seines Lebens und Sandrine Buendia als herrlich kultivierter Fels in der hormonellen Brandung). Während Madame brav in die Oper geht, will sich der johannestriebige Monsieur mit der von einem Freund brieflich empfohlenen Métella amüsieren. Die fantastische Kontraaltistin Aude Extrémo sorgt hier wie in ihrer Aufnahme für die jüngste Palazetto Bru Zane Box ‚Compositrices‘ mit sieben Liedern von Pauline Viardot für unwiderstehlichen Stimmfuror.
Die schöne Kurtisane Métella ist Auslöserin des Qui pro Quo, als sie am Bahnhof mit einer neuen Eroberung abzieht. Ihrer beider bis dahin konkurrierende Bettgenossen Gardefeu (Rodolphe Briand reüssiert als verbrauchter Resteverwerter schwindender Potenz) und Bobinet Chicard (Marc Mauillon als saftig trotteliger Lebemann), Neffe der mehr resoluten als vornehmen Madame de Quimper Karadec (die urkomische Ingrid Perruche hätte auch bei einer Mnouchkine-Regie pantomimisch nicht schnittiger agieren können), ziehen nun wieder am selben Lustbarkeitsstrang.
Kurzerhand lotsen sie die ebenfalls gerade ankommenden Gondremarcks ins eigene Palais. Gardefeu ist nämlich plötzlich ganz scharf auf die nordisch-aparte Lady Christine.
Die große Sause findet allerdings am Tag darauf im Salon der Madame Quimper-Karadec statt, deren Abwesenheit Bobinet nutzt, um mit der feinen Gesellschaft freie Bahn für pikantes Vielerlei zu haben. Um die Maskerade auf die Spitze zu treiben, müssen die Handschuhmacherin Gabrielle (die junge Jodie Devos mit ihrem süßen, weingartenpfirsicharomatischen Koloratursopran), der Schuster Jean Frick (wieder der lustspielgeeichte Éric Huchet, der auch noch als Gontran eine dritte Rolle darstellen darf) und das Stubenmädchen Pauline (peitschenschwingend Elena Galitskaya) neben verkleideten Handwerkern und sonstigen Bediensteten für „illustre“ Gesellschaft sorgen. Allerdings lässt der allgemeine Kater (Akt 4, Trio des ronflement „Ah! Quelle fête!“) nicht lange auf sich warten…. Wie nicht anders zu erwarten, triumphiert am Ende weibliche Schlauheit, weil Métella dem Baron kurzerhand die eigene Gattin unterjubelt, bevor sich alle – Liebe, Wonne, Waschtrog, Eierkuchen – versöhnen und sich über das ausgelassene Pariser Leben freuen.
Unter den vielen Frauen des Stücks hinterlässt noch Caroline Meng als Madame de Folle-Verdure, Freundin der Baronne de Gondremarck, mit üppig orgelnden tiefen Registern einen unvergesslichen Eindruck.
Wer wäre besser geeignet als der französische Haute Couturier Christian Lacroix, die rasanten Ereignisse rund um den nach neuen erotischen Ufern gierenden, von der Prostituierten Métella abgelegten Liebhaber Gardefeu und die Fantasien eines ältlichen schwedischen Lüstlings für nächtliche Feste hinter verschlossenen Türen besser in Szenen zu setzen? Und wer kann diese in der neuen Edition von Palazetto Bru Zane so akribisch wieder hergestellte Partitur feuriger und lasziver aufrauschen lassen als Romain Dumas mit dem von Marc Minkowski gegründeten Originalklangorchester „Les Musiciens du Louvre“? Nicht zu vergessen, Choreograph Glyslein Lefever, der seine männlichen, hüftenschwingenden Étoiles akrobatisch elegant die langen Beine zu Cancan und Galop schleudern lässt.
Die Kostüme und das Bühnenbild für die schlüpfrige Überzeichnung der außer Rand und Band geratenen, abgehalfterten Jeunesse dorée der Hauptstadt der „Liebe“ gehen vor lauter Frou frou, Farben, Karos, Samt, Plüsch, Federn, Rüschen, Maschen, Schleiern, barocken Applikationen und schweren Parfums nur so über. Die Interieurs der Salons, die schon alles gesehen haben, sehen – comme il faut – gleichermaßen überladen wie abgenudelt aus, passend zur zirkusartig dick aufgetragenen Schminke und der freizügig von der androgynen Balletttruppe zur Schau gestellten nackten Haut. Denn wisst: In Paris dreht sich alles um das erotische Kitzeln, um das rasche sexuelle Abenteuer mit seinen um sich selbst wirbelnden Ritualen, dem zu zivilisatorischen Glanzlack geronnenen luxuriösen Lebensgefühl.
Offenbach zündet die Lunte des musikalischen Feuerwerks in den 35 Nummern mit jeder Menge an mehr oder weniger textsinnigen Couplets, Rondeaus, Strettes, Galops, Arien, Duetten, Terzetten, Quartetten, Quintetten, Sextetten, Chören und großen Finali. Fünf Akte bzw. drei volle Stunden nach Beginn der Buffa darf nach fein eingewobenen orchestralen Mozart-Zitaten („Le nozze di Figaro“, „Don Giovanni“) über untreue Gatten und das Leben an sich sinniert werden. Der am linken Bühnenrand als dramaturgische Idee des Aufs und Abs im Pariser Leben geschickt platzierte Lift wird nun nicht mehr gebraucht. Für einen Moment löst sich alles im Wohlgefallen des in allen Lagen angestimmten Piff Paff Puff auf.
Fazit: Ganz große Empfehlung für einen entspannten Nachmittag oder Abend zu Hause. Vergessen Sie nicht, dazu eine Flasche schäumendes Getränk zu öffnen!
Dr. Ingobert Waltenberger