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Blu-ray JACQUES OFFENBACH: LA PÉRICHOLE – Filmmitschnitt aus der Opéra Comique Paris vom Mai 2022; NAXOS

18.05.2023 | dvd

Blu-ray JACQUES OFFENBACH: LA PÉRICHOLE – Filmmitschnitt aus der Opéra Comique Paris vom Mai 2022; NAXOS

Stéphanie D’Oustrac, Philippe Talbot und Tassis Christoyannis in einer amüsant überkandidelten Inszenierung von Valérie Lesort

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Geschichte und Geschichten können so oder so rüberkommen. Die Liebes- und Freiheitserzählung der historisch verbürgten Straßensängerin La Perricholi in der Zeit der spanischen Kolonialherrschaft in Lima hat sich – der modeblütenreibenden Faszination der Franzosen für Spanien und seine exotisch-erotischen Ruchbarkeiten sei Dank – gleich einmal Prosper Mérimée unter den Nagel gerissen. Seine Prosa-Kurzgeschichte „Le Carrosse du Saint-Sacrement“ war als antiklerikale Satrire konzipiert, die La Pericholes Treffen mit dem Bischof von Lima in Gegenwart eines eitlen und verliebten Vizekönigs aufs Korn nahm. Bei letzterem handelte es sich um eine scharfe Karikatur des alternden Ludwig XVIII. Später hat das Duo Emmanuel Théaulon und Auguste Pittaud de Forges eine Bühnenversion erstellt, die 1835 erfolgreich im Théâtre du Palais- Royal lief. Offenbach hat den Stoff 1850 in der Comédie-Française, wo er als Dirigent wirkte, kennengelernt. Eine ideale Vorlage für eine opéra bouffe, wie er fand. Seine genialen Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy haben eine köstliche Theaterfigur aus Mérimées Vizekönig und unverkennbaren Zügen von Kaiser Napoleon III erfunden. Letzterer fühlte sich offenbar so sicher in seinen Socken, dass er die Ähnlichkeit mit Humor nahm.

Und weil eine Opéra Comique beinahe alles darf (der Bischof wurde aus der Handlung entfernt, um der Zensur keine Steilvorlage zu bieten), dürfen wir uns über eine kräftig in honigsüßen Kakao getunkte Operette über La Périchole und ihren pech-dümmlichen, dafür umso treueren Piquillo freuen. Den schwierigen sozialen Hintergrund haben Offenbach und seine Textbuchschreiber in folkloristische Massenszenen vor der Taverne der drei Cousinen (ähnlich wie später in ihrer Carmen) geschickt aufgelöst, ohne das tapfere Schicksal der armen Bevölkerung auszusparen.

Die wunderbare Ko-Produktion aus der Pariser Opéra Comique des Filmemachers Francois Roussillon, Olympia TV und medici.tv hat sich in einem Farbenrausch sondergleichen der frechen Ironisierung des sentimental johannestriebigen Vizekönigs samt steifprätentiösen Hofschranzen und der vitalen Liebesgeschichte zweier Künstler, kulminierend in einem ausgelassenen Fest der Musik und des Tanzes, verschrieben.

In dieser bunt sinnenfreudigen und raffiniert Erotik und Macht persiflierenden Inszenierung ist zuerst die Kostümbildnerin vor den Vorhang zu bitten: Vanessa Sannino schuf in den einfachen, aber atmosphärisch mediterran sonnigen Bühnenbildern von Audrey Vuong ein Panoptikum an stylie und wandlungsfähigen Kostümen. Peruanische Tanztrachten hat sie in einem Akt raffiniertester Pariser Haute-couturiellen Aneignung zu einem kunstvollen Kostümreigen variiert. Da werden Erinnerungen an historisches Bühnen- und Kostümdesign von Picasso, Dérain, Barbier, Chagall, Matisse wach.

Sannino lässt die Hofgesellschaft als lebendige Skulpturen staksen, dem männlichen Ballett hat sie unter die Militärrockschösse bunte Cancanvolants nähen lassen und kanariengelbrüschige Slips verpasst, schlichtweg mörderisch gute Outfits für schlüpfrige Cancans und hinterteiliges Twerking geschaffen.

Den Vogel aber schießt der als Bauer verkleidete Vizekönig Don Andrés de Ribeira ab, der mit einem angenähten Stoffpferd auftritt, um sich an seinem Geburtstag inkognito umzusehen, wie es den Untertanen so geht. Der Kopf und Hals des Pferdes kann nämlich so gehalten und manipuliert werden, dass man ihn entweder für ein niedliches Tier oder eben für einen schlaffen oder erigierten Mannesteil halten kann. Alles kindertauglich und höchst frivol zugleich, wie es eben nur die Franzosen zustande bringen.

Die Handlung ist ja schnell skizziert: Vizekönig Don Andrès de Ribeira will die schöne, aber hungergeplagte Perichole zu seiner Geliebten machen. Seine Trabanten, der erste Kammerherr Don Miguel de Pannatellas und der Gouverneur von Lima Don Pedro de Hinoyosa haben die Mesalliance zu administrieren. Also gibt sich Piquillo gegen Bezahlung für eine Scheinehe mit der „unbekannten“ Mätresse her. Schließlich gilt es, die Ehre der Krone zu bewahren. Freilich macht er eifersuchtspfeffrigen Raddatz, als er erfährt, dass er für niemand anderes als für die Périchole das höfische Feigenblatt abgeben soll. Im Gefängnis für widerspenstige Gatten versichert ihm seine Freundin, ganz brav gewesen zu sein. Mithilfe eines alten Gefangenen gelingt beiden die Flucht, vor der Taverne kommt es zum „Showdown“. Der Vizekönig lässt sich von Périchole weich stimmen, weil die beiden Turtel-Vögelchen eben nichts anderes wollen als singen und sich lieben. Da sie auch die geschenkten Brillanten behalten darf, ist erst einmal alles paletti und dem Happy End wird melodienselig gehuldigt.

Die bis in die kleinste Rolle exzellent gecastete Besetzung agiert – wie stets in der Opéra Comique – spielfreudig, launig und typenstark. Für Stéphanie D’Oustrac kommt die Périchole spät, aber nicht zu spät. Die Tradition, die Titelrolle mit (einst) glamourösen Carmen-Darstellerinnen zu besetzen (u.a. mit Regine Crespin, Teresa Berganza), hat ja was für sich. Philippe Talbot gibt als Piquillo einen entzückenden Tenorino, dümmlich-gutherzig, unendlich liebenswert und für seine einzige große Liebe unnachgiebig kämpferisch. Tassis Christoyannis trottelt sich als lüstern larmoyanter vizeköniglicher Don Quixote Verschnitt, aristokratisch elegant durch die Szene, Éric Huchet und Lionel Peintre erkunden als Kammerherr bzw. Gouverneur travestiestoffbusenumgürtet wie clownesk-wurstelig die Stimmung der Bevölkerung. Thomas Morris liefert in der Sprechrolle des alten Gefangenen ein Kammerstück an feintuschiger Rührseligkeit. Julie Goussot, Marie Lenormand und Lucie Peyramaure bezirzen das Publikum in ihren Doppelrollen als drei Cousinen und Hofdamen mit köstlichen Charakterstudien.

Auch sonst lässt man sich musikalisch nicht lumpen: Julien Leroy, im Rahmen der Lucerne Festival Academy einst lorbeergeschmückter Assistent von Pierre Boulez und Sir Simon Rattle, dirigiert das vorzügliche Orchestre de chambre de Paris in all den Boleros, Seguidillas, sentimentalen Arien und absinthgeschwängerten Couplets rhythmisch akkurat und elastisch am tänzerischen Puls der Musik. Ein rosiges Kompliment verdient auch die sechsköpfige Ballettgruppe. Der „Mozart der Champs-Elysées“ kann in dieser Realisierung wirklich seine Urständ‘ feiern. Brillant, amüsant!

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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