Blu-ray „INSIGHT“ WILHELM FURTWÄNGLER in historical audiovisual documents; WFG
„Furtwänglers Brüche waren innere. Er war ein Subjektivist, der philosophierte. Und genau das drückt sich in seiner Arbeit aus: Der Philosoph hat probiert und der Poet hat am Abend dirigiert. Der eine hat ohne den anderen nicht existieren können.“ Daniel Barenboim 2004
Erkenntnisse und Annäherungen. Was ist künstlerische Größe, was ist menschliche Größe? Rein kognitiv und analytisch ist solchen Fragen nicht beizukommen. Beim Hören von Musik mischen sich formale und emotionale Gradmesser zu einer eigenen nonverbalen Einheit. Das lässt sich nicht auseinanderdividieren. Dem Dirigenten und Phänomen Wilhelm Furtwängler verdanke ich einige der unzweifelhaft packendsten musikalischen Erlebnisse auf Tonträgern. Ein Pultmagier, der in seiner Flexibilität sehr präzise war (Yehudi Menuhin), der auf klangliches Gewicht und innere Kohäsion eines Kunstwerks Wert legte. Furtwängler selbst sprach einmal davon, eine Partitur wie eine blühende Blume zu behandeln.
Wer über die vielen Tondokumente hinaus Anschauliches über Furtwängler erfahren will, über den Menschen dahinter und die Einordnung seiner so körperlich eigentümlich gestalteten Kunst, ist mit dieser Box „Insights“, einem Projekt der Wilhelm Furtwängler Gesellschaft und musicas.de GmbH, bestehend aus drei Blu-rays und einem 122 Seiten starken Buch in deutscher und englischer Sprache, bestens bedient. Dabei wurden stets auf die technisch bestmöglichen Quellen zurückgegriffen.
Die erste Bluy-ray enthält 17 Videos aus den Jahren 1940 bis 1963, von denen die Ausschnitte eines AEG- Werkpausenkonzerts mit Richard Wagners Ouvertüre zu „Die Meistersinger von Nürnberg“ vom 26.2.1942 sowie die Gesamtaufnahme von Richard Strauss‘ „Till Eulenspiegel“ aus dem Titania Palast vom 18./19.6.1950, beide mit den Berliner Philharmonikern, herausragen. Beim Film aus dem Jahr 1942 ist neben musikalischer Exzellenz zu erkennen, wie sehr Propaganda offenbarend sein kann. Wie aufschlussreich sind die Großaufnahmen der Arbeiter und verwundeten Soldaten. Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Bitterkeit, Introspektion, hie und da ein Aufleuchten von Augen, insgesamt aber sehen wir ein fahl-tristes Bild der Wirklichkeiten aus der NS-Zeit. Das andere Dokument zeigt, welch ein fantastischer Richard Strauss Interpret Wilhelm Furtwängler war. Er, der vor allem für seine Interpretationen von Symphonischen von Beethoven, Schubert, Schumann, Bruckner und Brahms bis heute Maßgebliches und in seiner Intensität oft nicht Egalisiertes geleistet hat.
Die zweite Blu-ray „Remembering Wilhelm Furtwängler“ ist die musikalisch erkenntnisreichste. In Interviews von Musikern und Zeitzeugen aus Deutschland und Großbritannien sowie Probenausschnitten, die aus englischsprachigen und italienischen („La lezione interpretative“) Dokumentationen stammen, kommen u.a. Theodor W. Adorno, Claudio Abbado und Carlo Maria Giulini zu Wort. Die interessantesten Statements stammen jedoch aus Gesprächen mit drei Mitgliedern der Berliner Philharmoniker: Werner Thärichen (Paukist), Eberhard Finke (Solocellist) und Johannes Bastiaan (Geiger).
Das, was mir aus den vielen Erinnerungs-Worten dem Sinne nach im Gedächtnis blieb: Es faszinierte die Kombination aus „being precise and moving fluid“, während seine Art des Dirigierens an eine „puppet on the string“ erinnere. Anm.: Wenn man die Bewegungen von Furtwängler genau ansieht, dann scheint es wirklich so, als ob die schlaksig langen Arme an unsichtbaren Fäden hingen, wobei die Energie aus den zackigen Bewegungen der rechten Hand zu kommen scheint.
Das Charisma des Dirigenten und seine Offenheit haben die Musiker inspiriert. Theodor W. Adorno hatte als 16-Jähriger Furtwängler in einer Aufführung von „Tristan und Isolde“ gesehen. Obwohl die Bewegungen Furtwänglers alles andere als virtuos oder geschickt zu bezeichnen gewesen wären, war das Ergebnis völlig überwältigend. Adorno streicht die beseelende Kraft des Musizierens, die Disziplin, den subjektiven Ansatz und die Durchdringung eines jeden Details hervor: „Jeder Schlag, den er vollführte, erwuchs aus seiner Sensibilität.“ Furtwängler verfolgte dennoch ein objektives Ziel in seiner Art, Musik zu machen. Trotz des Hangs zur Romantik, war Furtwängler nicht das, wofür man ihn gern hielt, er war kein Ausdruckskünstler.
Claudio Abbado charakterisierte Furtwänglers Künstlertum als eine Kombination aus Intensität und Tiefe. Furtwängler kannte das Gewicht jeder Note, die hohe Spannung erreichte er mit seinen „verrückten“ Bewegungen, während Nicolas Benois Konstellationen statt einzelner Noten erkannt haben wollte. In Sachen Inszenierungen akzeptierte Furtwängler nur solche, bei denen Regieanweisungen in den Partituren genau umgesetzt wurden. Das war der Grund, warum er nach dem Krieg in Bayreuth keine Wagner-Aufführungen mehr leitete, sondern Wagneropern vor allem in Italien und besonders an der Mailänder Scala dirigierte.
Die Form müsse klar, trocken, ohne Schwärmerei sein, aber mit einem Feuer unterlegt, das diese Form erleuchtet: Die drei befragten Philharmoniker wussten besonders detailreich über die tatsächliche Arbeit mit Furtwängler zu berichten: Furtwängler war kein machtausübender Dirigent, sondern ein empfangender. Diesen schönen Satz vertiefte Thärichen mit der Bemerkung, dass Furtwängler mit dem Taktstock wie mit einer Antenne Gedanken empfangen aber auch aussenden konnte. Für ihn wäre nicht das Taktgeben das Entscheidende, sondern die Musik, die hinter den Noten steht. Es war nicht der Moment entscheidend, wann die Musik begann (das berühmte Bonmot „Bei welcher Zacke sollen wir einsetzen?“ bringt das auf den Punkt), sondern er ließ die Musik, den Klang wachsen.
Daniel Barenboim ergänzt in seiner klugen Beschreibung: „Furtwängler hat in seinem tiefsten Inneren daran geglaubt, dass Musik entstehen muss. „Musik ist Klang und Klang muss werden“ nicht ohne versichert zu haben, dass er sich „musikalische Freiheiten nicht etwa genommen hatte, weil ihm das besser gefiel, sondern weil die musikalischen Strukturen es so verlangten. Furtwängler hat in einer Partitur nicht das Wie kalkuliert, sondern das Wo. {. …} Ohne dieses Gerüst, ohne diese Analyse hätte er niemals so frei sein können, wie er es war.“
Für manche bestand der Eindruck, dass Furtwängler immer an sich zweifelte, dass er vor jeder Aufführung an die Partitur gehen musste. Er wollte die Frische der Musik erhalten, seinem Orchester dabei als Partner gegenüberstehen. Die schönsten Dinge bekommt man geschenkt. Im gegenseitigen Beschenken von ausführenden Musikern geht es darum, nicht nur aufeinander zu hören, sondern sich gegenseitig hineinzufühlen. Als ehemaliger Chorsänger bei der Wiener Singakademie und beim Wiener Singverein kann ich diese Annäherung gut nachempfinden.
Höchst bemerkenswert ist, dass er als Chef der Berliner Philharmoniker bei Nachbesetzungen dem Orchester völlig freie Hand gelassen und sich nicht eingemischt hat. „In Sachen Haltung und Aufgeschlossenheit seinen Partnern gegenüber war er größer als alle anderen. Partnerschaften gedeihen dann, wenn man sich gegenseitig beschenkt fühlt.“ Thärichen sagt, dass keiner wie Furtwängler werden kann, aber jeder kann seine Seele erfassen und seine eigenen menschlichen Qualitäten fördern.
Furtwängler trug die Musik in seinen Händen. Besonders seine linke Hand, da modellierte er umsichtig wie mit etwas ganz Wertvollem. Nicht akzeptieren konnte Furtwängler, wenn etwas „wie leeres Stroh klang“, er wollte „Fülle im Klang.“ Furtwängler war ständig dran, der Musik gerecht zu werden.
Auf Blu-ray drei ist die gut geschnittene Dokumentation „Wilhelm Furtwängler“ nach einem Skript von Karla Höcker in der Regie seines Neffen Florian Furtwänglers aus dem Jahr 1968 zu sehen. Erstaunlich vielseitig beleuchtet, erhält der Zuseher tiefe Einblick in die Familiengeschichte, in Briefe des jungen Wilhelm an die Bildhauerstochter Berthele Hillebrand. Das Bild eines selbstkritischen, oft mich sich unzufriedenen Burschen verfestigt sich, wenn Berthele zitiert wird: Bezeichnend für ihn war, dass er unglücklich war, wenn er kleinen Grund sah, glücklich zu sein.
Das der Box beigeschlossene Buch enthält neben Texten von Helge Grünewald, Musikpublizist und erster Vorsitzender der Wilhelm-Furtwängler-Gesellschaft, viele Fotos, so auch seltene aus privaten Sammlungen und der Familie Furtwängler, Faksimiles von Plakaten und Programmheften.
Am 30. November 1954 starb Furtwängler, also vor etwas über 70 Jahren. Die letzten sechs Monate vor seinem Tod müssen den Zeitzeugen aus dem Orchester nach tragisch gewesen sein, vor allem, weil er extrem schwerhörig wurde und so wusste, seine Arbeit nicht mehr fortsetzen u können. Die idZ an alle drei Philharmoniker gerichtete Frage der Interviewerin, ob Furtwängler Selbstmord begangen hätte, wurde von diesen klar verneint.
Zu seinem Nachfolger bei den Berliner Philharmonikern, Herbert von Karajan gibt es zwei konträre Stellungnahmen zu hören. Die lauten in etwa so: „Der eine hat sich verschenkt, der andere teuer verkauft.“ oder „Karajan war der ideale Nachfolger Furtwänglers mit dem gleichen Klangsinn und der gleichen Erlebnisfähigkeit. Karajan hatte aber keine Vorliebe für pathetische Höhepunkte, er war ein moderner Furtwängler und eher analytischer Dirigent.“
Meine erste persönliche Begegnung mit Aufnahmen Furtwänglers verdanke ich als Schüler der Oberstufe am neusprachlichen Zweig des Gymnasiums in Laa/Thaya, wo Russisch Pflichtfach war und in diesem Rahmen eine Studienreise nach Moskau und Leningrad stattfand. Im GUM am Roten Platz kaufte ich „Die Walküre“ und „Die Götterdämmerung“ mit Furtwängler auf Schallplatten. Das Hören hatte mehrere Initialzündungen ausgelöst: Das Kennenlernen der Stimme der Martha Mödl, die für mich bis heute die aufregendste und wahrhaftigste aller Hochdramatischen geblieben ist. Und die Erkenntnis, wie berstend intensiv Musik sein kann, wenn einer es vermitteln kann. Heute lebe ich in Berlin Schöneberg und mein täglicher Spaziergang führt mich an dem Ort vorbei, wo einst das Geburtshaus von Wilhelm Furtwängler stand. Auf einer Gedenktafel an der Adresse Nollendorfplatz 8-9 bzw. Maaßenstrasse 1 ist vermerkt: „An dieser Stelle stand das Geburtshaus von Wilhelm Furtwängler (1886-1954), Komponist und Chefdirigent der Berliner Philharmoniker von 1922 – 1954.“
Wer sich für außergewöhnliche Interpretationen klassischer Musik interessiert, dem seien natürlich alle EMI-Studio-Aufnahmen, aber ebenso die optimal restaurierten Einspielungen mit den Berliner Philharmonikern live, ergo die Box Wilhelm Furtwängler „The Radio Recordings 1939 bis 1945“ des Labels Berliner Philharmoniker Recordings empfohlen. Anm.: Wie das Label jüngst kommunizierte, wird es am Freitag, dem 28. Februar 2025 folgende, d.h. die zweite umfangreiche historische Edition mit bisher größtenteils unveröffentlichten Rundfunkmitschnitten auf 24 Hybrid CD/SACD veröffentlichen: „Die Berliner Philharmoniker und Herbert von Karajan: 1953–1969 live in Berlin.“ Die Aufnahmen dokumentieren sämtliche noch existierende Mitschnitte von insgesamt 23 Konzerten aus den Jahren 1953 bis 1969.
Am Ende sei nochmals Daniel Barenboim zitiert: „Furtwängler ist der Anti-Schubladen-Musiker, der Anti-Ideologe par excellence – und dieses Präsens meine ich ernst, denn darin bliebt Furtwängler uns lebendig. …Es erscheint uns heute grotesk, aber die Emigranten unter den Dirigenten stellen künstlerisch weit weniger gebrochene Persönlichkeiten dar als Furtwängler, der Nazi-Deutschland nicht verließ.“
Fazit: Die veröffentlichten, umfassend informativen Filmdokumente erlauben es, sich in völliger Freiheit eine eigene Meinung über die künstlerischen und außermusikalischen Eigenschaften des Menschen und Musikers (als Pianist, Komponist und Dirigent) Wilhelm Furtwängler zu bilden. Zu welchem Schluss man immer auch kommen mag, bereichernd ist die Befassung damit allemal.
Dr. Ingobert Waltenberger