Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

Blu-ray: HOROWITZ IN MOSKAU 1986 – Konzertfilm und Reportage über die Rückkehr des legendären Pianisten in die Sowjetunion für zwei Konzerte 61 Jahre nach seiner Emigration nach Berlin, sodann in die USA; major

19.06.2023 | dvd

Blu-ray: HOROWITZ IN MOSKAU 1986 – Konzertfilm und Reportage über die Rückkehr des legendären Pianisten in die Sowjetunion für zwei Konzerte 61 Jahre nach seiner Emigration nach Berlin, sodann in die USA; major

Botschafter des Friedens und singulärer Tastenpoet

„Er ist der beste Liebhaber, den das Klavier jemals hatte, wirklich der Beste!“ Martha Argerich

hor

Da sitzt er mit seinem unvergleichlich bübischen Lächeln, die gestrenge Wanda Toscanini an seiner Seite, stets auch als 83-jähriger lebender Mythos noch den Schalk in Wort und Mimik im Nacken, wenn er von seiner Kindheit als einer der vier erzählt, die zu Hause auf dem Klavier Beethovens 9. Symphonie auf dem Klavier malträtiert haben. Die Schwester spielte gut, die Mutter konnte keine drei Takte zählen, da war noch der Vater und der kleine Vladimir dazwischen. Er erinnert sich an abendliche Kartenspiele wie Preferanzen oder Poker. Nach dem Dinner versammelte man sich bei Samowar und Sakuski, das ganze Haus kam da zum Tratsch zusammen…. Das war in Berdytschiw, Horowitz‘ Heimatstadt im Süden der ukrainischen Oblast Schytomyr.

Die Auftritte in Moskau (Konzertsaal des Moskauer Konservatoriums) und Leningrad am 20. und 27. April 1986 zeigten sein pianistisch so unverwechselbar individuelles Genie aufs Ergreifendste. Neben der Sehnsucht, den noch lebenden Teil seiner Familie nach Jahrzehnten erstmals zu sehen, war ein durch die Musik sich manifestierendes politisches Friedenszeichen in den steten Spannungen zwischen der UdSSR und den USA eine der wesentlichen Triebfedern seiner Reise. Immerhin herrschte Kalter Krieg, seine Reise nach Moskau galt als Toröffner, der Aufenthalt und die Konzerte kamen für viele Menschen in der Sowjetunion einem Wunder gleich. Das Regime hatte Werbung für das Konzert untersagt, nur ein kleines Plakat wies auf den bevorstehenden Auftritt hin.

Dabei hatte Horowitz eine (unbegründete) Riesenangst davor, bei seiner Einreise inhaftiert zu werden, konnte zwei Jahre vor diesen Konzerten kaum noch spielen, und gibt dann einen der größten Auftritte pianistischer Kunst im 20. Jahrhundert, wie sein Agent Peter Gelb in der Doku „Sternstunden der Musik“ 2018 erzählte. US-Präsident Ronald Reagen hatte mit seiner Person für das Konzert gebürgt, Klavier und Reise standen unter dem besonderen Schutz der US-Marines.

Die Betreuerin hatte es wahrlich nicht einfach mit ihm. Der neurotische Horowitz dachte nämlich, er müsse sterben, wenn er nicht eine besondere Nahrung einnähme. Die bestand damals aus Dorade und frischem Spargel, wobei sich der britische Botschafter um den Fisch, der italienische Kollege um den Spargel kümmerte.

Rührend und wie aus fernen Welten zu sehen ist der Vorspann mit den „Vorbereitungen zum Konzert“, der Verschiffung des persönlichen Steinway-Flügels in die US-Botschaft in Moskau, das Anstellen der in Scharen herbeigeeilten Moskowiter um Konzertkarten, das Gedränge um des „Kurzfrist-Heimkehrers“ Person auf der Straße, aber auch die faszinierende Konzentration des Publikums während des Konzerts und die üppigen Blumensträuße, die dem Künstler nach dem ersten Teil des Konzerts unter tiefst respektvollen Verbeugungen auf die Bühne gestellt wurden.

Im Interview erzählt der Horowitz launisch humorvoll über seine Vergangenheit, Rachmaninov und Scriabin hatte er noch persönlich gekannt. Letzterem hatte er als 10- jähriger vor einem Konzert des Komponisten vorspielen dürfen. Man stelle sich nur vor. Manchmal scheint ein Schatten über die lachenden Falten zu huschen. Die Landschaft des vom Leben gefurchten Gesichts kündet von geheimen Erinnerungen an das stete Auf und Ab seines kosmopolitischen und emotional geplagten Lebens, die in ihren Extremen natürlich auch das Spiel des Pianisten Horowitz geprägt haben.

Mit ungeschnittenen Fingernägeln am Klavier vollbrachte Horowitz an diesem 20. April 1986 wahre pianistische Wunder. Die federleicht wehenden pianissimo-Fäden, das einer Aufhebung jeglicher Materie gleichende Schweben über die Tastatur, das gewichtige Eintauchen in eine Melancholie bei den Préludes in G-Dur und gis-Moll von Rachmaninov (mit dem er noch vierhändige Klavierstücke in seinem Wohnzimmer in New York spielte), die verzweifelt-euphorisch, bekenntnishaften Etüden in cis-Moll und dis-Moll von Alexander Scriabin, die majestätisch geschliffene, gleichzeitig im jugendlichem Überschwang entstaubte Polonaise héroique in As Dur Op. 15 von Frederic Chopin oder die sternenstaub-perlenden, in Wortsinn funkensprühenden ‚Etincelles‘ aus den „Morceaux caractéristiques“ Op. 36 Nr. 6 des Moritz Moszkowski lassen den Zuseher nicht nur zeitreisend in historische Klavierkunst tauchen, sondern werden jede poetisch adressierbare Musikerseele ins Innerste ihrer selbst katapultieren. Horowitz‘ Umgang mit Rhythmus, seine ganz aus der melodischen Empfindung geschälten Rubati, dieses verschmelzende Ineinandergreifen von Stimmungen und Regungen, sanglicher Themenformung und musikalischer Intuition sind einzigartig.

Bei Mozart erweist sich Horowitz als reduzierter Essentialist. Besonders den zweiten Satz der Sonate Nr. 10 in C-Dur, KV 330, modelliert Horowitz in superber Anschlagskultur aufs zärtlichste, deutet sie in ihrer Vielschichtigkeit mit winzigen Modulationen in Tempo und Dynamik. Nichts weniger als von einem spektakulär auftrumpfenden Virtuosen legt und Horowitz uns vor, war aus dem martialisch technischen Perfektionisten doch längst ein lyrischer Ausdruckskünstler der Superlative gereift.

Martha Argerich schwärmte über den Reichtum an Vorstellungskraft, Daniil Olegowitsch Trifonov von der immensen Spannung im Pianissimo. Friedrich Gulda nannte ihn einen „Übergott“, andere verpassten ihm Zuschreibungen wie „Romantiker“,  „Tornado der Steppe“, „Publikums-Verführer“. Joachim Kaiser brachte es wohl auf den Punkt, als er konstatierte: „Gegenwärtig bereitet es Horowitz offensichtlichen Spaß, als Musiker zu verzaubern und als Virtuose zu siegen, ganz frei und ganz ausdrucksvoll zu sein.“

So entlässt Horowitz in Moskau sein Publikum mit der witzigen Polka de W.R. von Sergei Rachmaninov, einem pyrotechnischen Schelmenstreich, einem freudvoll kindlichen Seht her, einem rasanten Bauerntanz mit fein ziseliertem Ende.

Nachwort: Nach seinen Konzerten in Moskau und Leningrad kam er am 11. Mai 1986 nach Hamburg, am 18. Mai spielte Horowitz in der Berliner Philharmonie, eine Woche später noch einmal daselbst. Die letzten Konzerte in Deutschland gab er in Berlin am 7. und in Hamburg am 21. Juni 1987.

Konzertprogramm Moskau 20.4.1986

  • D. Scarlatti Sonata in b-Moll L. 33
  • D. Scarlatti Sonata in E-Dur L. 23
  • D. Scarlatti Sonata in E-Dur L. 224
  • Mozart Sonata in C-Dur, KV 330
  • Rachmaninov Prélude in G-Dur, Op. 32 Nr. 5
  • Rachmaninov Prélude in gis-Moll, Op. 32 Nr. 12
  • Scriabin Étude in cis-Moll, Op. 2 Nr. 1
  • Scriabin Étude in dis-Moll, Op. 8 Nr. 12
  • Schubert Impromptu in B-Dur, Op. 142 Nr. 3, D 935
  • Schubert-Liszt Valse Caprice Nr. 6, Soirées de Vienne
  • Liszt Sonetto del Patrarca Nr. 104 in E-Dur
  • Chopin Mazurka in cis-Moll, Op. 30 Nr. 4
  • Chopin Mazurka in f-Moll, Op. 7 Nr. 3
  • Chopin Polonaise in As-Dur “Héroique”, Op. 53
  • Schumann ‚Träumerei‘, aus „Kinderszenen“, Op. 15
  • Moszkowski Etincelles; Op. 36, Nr. 6
  • Rachmaninov Polka W. R.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

Diese Seite drucken