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Blu-ray GEORGES BIZET „CARMEN“ – Produktion der Opéra Comique Paris 2009 mit ANNA CATERINA ANTONACCI

SIR JOHN ELIOT GARDINERS temperamentvolle Umsetzung der Urtext-Version von Richard Smith  

12.09.2021 | dvd

Blu-ray GEORGES BIZET „CARMEN“ – Produktion der Opéra Comique Paris 2009 mit ANNA CATERINA ANTONACCI

 

SIR JOHN ELIOT GARDINERS temperamentvolle Umsetzung der Urtext-Version von Richard Smith

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Carmen wurde 1875 an der Opéra Comique (=Salle Favart) in Paris uraufgeführt. Georges Bizet starb kurz darauf mit 36 Jahren an Herzversagen. Seine letzte Oper Carmen, eine opéra comique, d.h. naturgemäß  mit gesprochenen Dialogen, wurde erst posthum mit Balletten aus anderen Werken Bizets und verkomponierten Rezitativen in Richtung Grand Opéra gedrechselt. 

 

Die Regie der Premiere vom Juni 2009 wurde dem englischen Theater-Regisseur Adrian Noble anvertraut. Er stand lange Jahre der Royal Shakespeare Company vor. Noble setzt vor allem auf die historisch korrekte Erzählung der Geschichte und der beißenden Gesellschaftskritik, wie sie die Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy in ihrer Adaption des Stoffes sahen. Dementsprechend dicht und im Details mit filmischer Präzision sind in dieser klassischen Produktion die Beziehungen der Personen zueinander gestaltet. Regiegags und optische Sperenzchen gibt es nicht. In einem an das Shakespeare-Rund erinnernden, karg hölzernen, in Schatten und Dämmerlicht getauchten  Einheitsbühnenbild von Mark Thompson und historisch Kostümen läuft die realistisch brutale Geschichte rund um Liebe, ihre Vergänglichkeit und tödliche Eifersucht ab wie am Schnürchen. Ein großes Atout dieser vom Theater her gedachten Regiearbeit ist es, dass auch alle kleineren Rollen ungewohnt profiliert gearbeitet und psychologisch glaubhaft gezeichnet sind. 

 

Noble steht in der Italienerin Anna Caterina Antonacci ein charismatisches „Bühnentier“ als Titelheldin zur Verfügung. Es ist eine ihrer ganz großen Rollen, in der sich Antonacci 2009 in stimmlicher Höchstform präsentierte. Ihr hell-herber Sopran bringt das mädchenhaft Verletzliche, das Unbedingte der Figur eher zum Ausdruck als eine hüftschwingende, Kastagnetten klappernde Verführerin. Schon früh erkennt diese von Instinkt und Stolz getriebene Carmen, dass sie von Josés Hand sterben wird. Dementsprechend vergleichsweise passiv zu anderen Interpretationen lässt sie sich im vierten Akt erwürgen. Ihr adeliger Don José, der amerikanische Tenor Andrew Richards, ist vom Typ her ein fescher Offizier, als Mann ein Softie. Rein stimmlich steigert er sich von einem im Falsett gesäuselten enttäuschenden Beginn zu heldischer Attacke im Schlussduett. Ebenso primär nach optischen Kriterien gecastet dürfte Nicolas Cavallier als Escamillo worden sein. Vokal hat man schon differenziertere und raffiniertere Stierkämpfer erlebt. Die junge Anne-Catherine Gillet als Micaëla wächst nach einem zwar schön gesungenen, aber emotional neutralen Start erst im dritten Akt zu einer tragischen Figur, die zu Wahrhaftigkeit im Ausdruck findet. Matthew Brook als dicklich brummiger Zuniga erhebt den eifersüchtigen Kollegen Don Josés zu einer dramaturgisch imposanten Figur. Virginie Pochon als Frasquita und Annie Gill als Mercédès steuern stimmlich federgewichtig ebenso zu einem glaubwürdigen Ensemble bei wie ihre Kollegen Riccardo Novaro als Moralés, Francis Novaro als Le Dancaire und vor allem Vincent Ordonneau als typisch französischer Charaktertenor in der Rolle des Le Remendado. 

 

Das große Ereignis, das diese exzellente Verfilmung (Videodirektor François Roussillon) zum historischen Monument erhebt, ist die straffe musikalische Leitung der neuen kritischen Edition durch Sir John Eliot Gardiner mit seinem Originalklangensemble Orchestre Révolutionnaire et Romantique und dem wohl besten Kammerchor der Welt, dem Monteverdi Choir als top-fitem Opernchor. Der Alte Musik Star Gardiner, der längst via gelungenen (Operetten)Einspielungen (etwa der „Lustigen Witwe“ mit den Wiener Philharmonikern) bewiesen hat,  dass er musikalisch auch zu Spitzenschöpfungen des 19. und frühen 20. Jahrhundert Maßgebliches zu sagen hat, holt mit unbändigem Temperament, drastischer Dramatik ummantelt von romantisch grundiertem Klang – historische Instrumente schließen nicht aus, dass die Streicher seidig klingen – bei höchster Transparenz und Farbigkeit der Soli alles an superben Details dieser wundersamen Partitur heraus. Auch nach rund 3000 Aufführungen alleine an der Opéra Comique hat dieses mythische Werk nichts von seiner Faszination eingebüsst, wenn wie hier die Titelheldin und der Dirigent nicht nur alles geben, sondern etwas Eigenständiges, ja auf ihre Art aufwühlend Revolutionäres kreieren. 

 

Dr. ingobert Waltenberger

 

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