Blu-ray GEORG FRIEDRICH HÄNDEL: THEODORA – Filmmitschnitt aus der Royal Opera Covent Garden London vom Februar 2022, Opus Arte
Schwerer Regieunfall: Botschaftsküche, frühchristliche Fundifrau als Bombenbastlerin und ihr Dydimus als Table Dancer im Puff – dafür begeistert die musikalische Seite vorbehaltlos mit tief empfundener Realisierung der Partitur und seelenvollem Gesang
Händel hat sein vorletztes Oratorium auf ein Libretto des Thomas Morell selbst für seine Verhältnisse besonders flott, und zwar in knapp drei Wochen Juni/Juli 1749 aufs Papier gebracht. Freilich ließ sich Händel nach den damaligen Gepflogenheiten von so manchem (italienischen) Komponisten inspirieren. Vorzügliche Quellen für so manch eingängiges Thema lieferten etwa Giovanni Carlo Maria Clari, Agostino Steffani, Antonio Lotti oder Gottlieb Muffat.
Dennoch ist Händel mit seinem einzigen Oratorium, das auf ein christliches Sujet setzt, nämlich die Geschichte der Märtyrer Theodora und Dydimus während der letzten großen Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian zwischen 302 und 305, ein musikalisch großer Wurf gelungen. Besonderen Erfolg hatte er zu Lebzeiten mit der in London uraufgeführten „Theodora“ nicht, hob es sich doch von den großen alttestamentarischen Oratorien mit ihrem Lob auf Tugendhaftigkeit, religiöse Verzückung und die Liebe sehr ab. Händel fiel als Reaktion nichts Besseres ein, als das Werk drastisch zu kürzen. Erst 1958 war wieder eine vollständige Partitur zugänglich.
Wer heute „Theodora“ auf Platte oder Video haben will, hat trotz einer wahren Flut an Publikationen der letzten dreißig Jahren eine nur eingeschränkte Wahl, weil der kurzlebige Klassikmarkt seine kostbarsten Monumente rasch wieder im Archiv verstauben lässt. Es gibt sehr gelungene und mit dem nötigen Fingerspitzengefühl musizierte Aufnahmen mit Maxim Emelyanychev (ebenfalls mit Joyce DiDonato als Irene), Peter Neumann oder Ralf Otto. Nur noch antiquarisch erhältlich sind hingegen die Einspielungen unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt, Johannes Somary, Nicholas McGegan, William Christie oder Paul McCreesh. Auf DVD+Blu-ray bieten sich aktuell Ivor Bolton (Salzburger Festspiele 2009) oder Harry Bicket (Royal Opera House Covent Garden 2022) an.
Eine respektvolle Erwähnung ist an dieser Stelle fällig: Niemand hat die Arien der Irene herzzerreißender und inniger gesungen als Lorraine Hunt Lieberson. Der Live-Mitschnitt aus Glyndebourne 1996 mit Dawn Upshaw in der Titelrolle ist ebenfalls vergriffen, aber Harry Bicket, der Dirigent unserer Aufnahme, hat auf einer ausschließlich der Musik Händels gewidmeten Liebermann-Solo-CD 2004 u.a. fünf Arien der Irene mit dieser wunderbaren, viel zu früh mit nur 50 Lebensjahren an Krebs verstorbenen Mezzosopranistin aufgenommen.
In London haben Julia Bullock, Joyce DiDonato und Jakub Józef Orliński die Partien der Theodora, ihrer Freundin Irene und des Römers Dydimus übernommen. Ein glorreiches Trio. Die beiden Frauenstimmen könnten für heutige Verhältnisse besser nicht sein. Julia Bullock fasziniert mich mit ihrer noblen, sensitiv- femininen Ausstrahlung, ihrem farbenprächtigen, expressiv aufleuchtenden lyrischen Sopran und ganz besonders im harmonischen Zusammenspiel mit ihrem sie liebenden römischen Offizier Dydimus. Jakub Józef Orliński ist mir von allen Countertenören, die die Rolle des Dydimus auf Tonträgern verewigt haben, der liebste. Sein seidig-fluider, in allen Lagen schwebend pulsierender, bruchlos anspringender Alt macht die Wandlung vom römischen Soldaten über die Konversion zum christlichen Glauben bis zum Märtyrertod mit einer vokalen Natürlichkeit und seinem typisch bübischen Charisma zum Höhepunkt der Aufführung. Die Figur des Dydimus ist jedenfalls diejenige, die sich am stärksten entwickelt und darin von einer reinen Menschenliebe, deren Aufmerksamkeit nur den vis à vis gilt, getragen wird.
Joyce DiDonato ist bei Händel, Mozart & Co goldrichtig aufgehoben. Ihr klangvoller Mezzo, wenngleich expansionsfähig und höhensicher, gerät bisweilen bei den dramatischen Passagen ihres Berlioz-Repertoires unter Druck. Als Irene kann sie jedoch die lyrischen Qualitäten und das zauberische Legato ihrer ruhig strömenden Luxusstimme in Arien wie „Defend her Heav’n“, „As with rosy steps the morn advancing“ oder „New scenes of joy come crowding on“ voll auskosten.
Die interessanteste Figur auf Römerseite ist natürlich der mörderische Valens, römischer Präsident/Gouverneur der Stadt Antiochien, der beim Jupiteropfer zwar die Göttinnen Flora und Venus ehrt, aber alle die, die die Opfergabe verweigern, umbringen lassen will. Gesagt, getan, am Ende verurteilt der hartherzige Tyrann Theodora und Dydimus gemeinsam zum Tod, weil beide immer wieder anbieten, jeweils an Stelle des anderen sterben zu dürfen. Der in Rumänien geborene ungarische Bariton Gyula Orendt passt mit seinem viril auftrumpfenden, raubeinigen vokalen Auftritt exzellent zur Rolle des psychopatischen Willkürherrschers.
Den langweiligsten, denn unentschiedensten Charakter des Oratoriums hat der römische Offizier Septimius. Handlanger des Valens, ist dieser Septimius ein Gutböser. Gefühlsmäßig-intuitiv seinem Kollegen Dydimus am nächsten, will er zwar versöhnen und die Quadratur des Kreises zwischen Pflicht und Gewissen auflösen, bleibt aber in der Abwägung bei Dienstkadavergehorsam und Subordonanz. Dem britischen Tenor Ed Lyon gelingt eine szenisch und stimmlich glaubhafte Übersetzung der nervenden Zerrissenheit des Septimius. In purer Loyalität dem Dydimus zugetan, muss letzterer ihn im Angesicht des eigenen Lebensendes noch trösten. Der Tod wird aus seiner religiösen Überzeugung heraus ihn und Theodora direkt in den Himmel katapultieren. Bei solcher Glückseligkeit gibt es nichts zu beweinen.
Harry Bicket dirigiert das Orchester der Royal Opera Covent Garden mit Stilwissen und Umsicht sowie stimmungsvoll auf jedes Detail zielend. Jegliches Überschießen in Bezug auf Artikulation und Tempo, wie es von anderen Spezialisten der Barockmusik regelmäßig als einzig seligmachende Wahrheit vorgeführt wird, ist ihm fremd. Das ergibt ein die gedeckteren Farben des Orchesters betonendes Klangbild und ein herzschlagkadenzierendes Auskosten der langsamen Arien. Der Chor des Royal Opera House singt exzellent, gut ausbalanciert mit nobler Tongebung und beispielhaftem Legato.
Warnung: Wer sich musikalisch glänzend Spektakuläres erwartet, wird aus diesem die nach innen gerichteten Reliefs der Personen reflektierenden Oratorium nichts für sich gewinnen können.
Wie auch Regisseurin Katie Mitchell, die mit ihrer Ansiedlung der Inszenierung im politisch religiösen Fundamentalismus von heute an Banalität nicht zu überbietender B-Movie Manier nichts, aber auch wirklich nichts ausgelassen hat, was im schärfsten Kontrast zur Musik und zur Idee des Oratoriums steht.
Und das geht so: Während der im französischen Stil erdachten Ouvertüre in g-Moll und dem ganzen ersten Akt hindurch schickt uns die Regisseurin in die römische Botschaft von Antiochien, wo Valens umgeben von seinen Bodyguards Dydimus und Septimius schaltet und waltet. In der sterilen Nirosta-Küche (im Libretto sind das die geheimen christlichen Bethäuser) wird geputzt und geschrubbt. Theodora, Irene und eine dritte Angestellte (stumme Rolle) bereiten einen Sektempfang vor, während die ganze Botschaftswelt und was da noch schlampig dazuzugehören scheint, hektisch über die Szene wuselt. Dydimus schenkt Theodora eine Halskette, kurz danach wird ihr per Post ein Bombenbausatz geliefert. Schließlich will sie ja ganz unchristlich die ganze Botschaft in die Luft sprengen… Tja so macht man Opfer zu Tätern.
Im nebenliegenden resopalbewandeten Speisesaal (die gesamte Bühnenmaschinerie der Chloe Lamford zeigt alternativ oder teilweise gleichzeitig zwei bis fünf Räume) schwört Botschafter Valens die Belegschaft auf das Jupiter Opfer ein, nicht ohne vor allen während seiner gesamten Arie zwei leicht beschürzte Frauen zu befummeln. So reiht sich eine Peinlichkeit/Absurdität an die andere: Die Bodyguards trinken in der Küche Jameson-Whiskey. In nächtlicher Schummrigkeit startet Theodora ihre Bombenbastelei. Irenes arioser Kommentar dazu: “O leuchtendes Beispiel der Güte!“ und der Chor singt: „“Mit Liebe beflügle unsere Seelen, derweil Gnade und Wahrheit fließen aus deinem Wort und speisen das heilige Feuer.“ Gleich drauf feiert die offenbar gesamte christliche Community in der Botschaft heimlich Weihnachten mit Christbaum und verklärt seligen Gesichtern. Natürlich fliegt die Sache auf, Septimius und ein anderer Typ stürmen mit gezückten Pistolen herein – filmgerecht spielt sich in dieser Szene alles in Zeitlupe ab – und es gelingt ihnen die Entschärfung des Sprengsatzes. Banalste Action zu einer der herrlichsten, ruhig melancholischen Arien von Händel. Septimius vergreift will sich an Theodora vergreifen, was diese mit einem Tritt in das Gemächt des Zudringlichen quittiert. Dann wird Dydimus noch im Sektkühler getauft. Amen.
Damit sich niemand bei den Szenen schlecht fühlte, wo die Regie sexuelle Gewalt vorschrieb, sorgte die „Intimacy Coordinator“ Ita O’Brien für Ordnung. Eine „Intim-Koordinatorin“ also, nur um das abzufedern, was ohnedies nirgends im Textbuch steht.
Im zweiten Akt befinden wir uns statt in einem Gefängnis in einem offenbar staatlich beriebenen Bordell – einer Table Dance Bar, zugänglich direkt vom Botschafts-Speisesaal aus – und einem anschließenden Separée, wo Valens Theodora vergewaltigen will. Die versucht, sich mit zwei Pistolen (die gibt es offenbar immer und überall) zu befreien, wird aber überwältigt und abgeführt. Die ganze Inszenierung starrt nur so vor blutverschmierten Stereotypen und billigsten Klischees, die sich böse und grausam wollen, aber doch nur platt sind. Wer sehen will, wie es in einer Botschaft (habe selbst in verschiedenen 17 Jahre lang gearbeitet) bzw. im Bordell ähnlich wirklich der Realität in aller Härte zugeht, dem seien die Netflix-Serien „Die Diplomatin“ bzw. „Sky rojo“ empfohlen.
In “Theodora“ geht es doch darum, dass einer bedrohlich gewaltbereiten Gesellschaft die Gegenwelt von Gebet, Barmherzigkeit, Mitleid und Gnade entgegensteht. Und dass eine Frau sich nicht erpressen lässt und für ihren Glauben zu sterben bereit ist. Das dürfen aber unsere Märtyrer laut finalem Unsinns-Gag auch nicht.
Nachdem Theodora und Dydimus in den Kühlraum bei Eis, Nebel und Schweinehälften gesperrt wurden, um dort zu sterben, werden sie nach weiterem Pistolengefuchtle von den Christen gerettet. Frage: Was bleibt von einem Stück über Märtyrer, wenn diese froh weiterleben? Genau: Nichts, rein gar nichts. Ein banaler Alltags-Dutzendkrimi vom Fließband, wie es schon viel zu viele gibt, halt auf die Bühne transferiert. Schade um Händels schönstes Oratorium, das hier szenisch überhaupt nicht stattfindet.
Dr. Ingobert Waltenberger