Blu-ray/DVD: RICCARDO CHAILLY dirigiert RAVEL – live Mitschnitt aus dem KKL Luzern August 2018; Lucerne Festival – accentus music
„Jede Zeit, die den menschlichen Körper begriffen oder zumindest das Gefühl des Mysteriums dieser Organisation, seiner Ressourcen, seiner Grenzen, der in ihm enthaltenen Kombinationen aus Energie und Empfindsamkeit gespürt hat, hat den Tanz kultiviert, verehrt.“ Paul Valéry
„Die Apotheose des Tanzes“ nennt Remy Louis folgerichtig seine Betrachtungen im Booklet über dieses reine Ravel-Konzert mit Werken ausschließlich für Ballett geschrieben, das Riccardo Chailly brillant und elegant mit dem Lucerne Festival Orchester im Sommer 2018 realisierte. Auf dem Programm standen die „Valses nobles et sentimentales“ (1912), „La Valse“ (1920), die „Fragments symphoniques“ aus Daphne et Chloé – Suites Nr. 1 und 2 (1912) sowie als krönender Abschluss der „Bolero“ (1928). Ein Parcours über sechzehn Jahre Schaffen des Präzisionsfanatikers und Orchesterfarbenjongleurs Ravel.
Die „Valses nobles et sentimentales“, ursprünglich ein reiner Klavierzyklus, war als eine Reihe von Walzern in der Nachfolge Schuberts konzipiert. Der Anweisung Ravels „die Aufführung müsse ein übermäßiges Rubato oder Rallentando vermeiden, um ihr Tempo idealisierter Walzer zu bewahren, ohne dabei jedoch die Evokation des Tanzes zu vergessen“, befolgt Chailly aufs Wort. „La Valse“ wollte Ravel ursprünglich unter dem Titel „Wien“ publizieren, hat sich aus inhaltlich-ästhetischen Gründen jedoch für „La Valse“ entschieden. Dieser „Tanz um Liebe und Tod“ darf aus der Sicht des Schöpfers als ein Turnier mit verhängnisvollem Ausgang gehört werden. Wie Chailly diese „tanzende, wirbelnde, beinahe halluzinatorische Ekstase, diesen immer leidenschaftlicheren und aufreibenderen Strudel von Tänzerinnen“ in schillernde Töne hüllt, die existenzielle Quintessenz aus der Partitur destilliert, ist Weltklasse. Wir lassen uns gerne vom infernalischen Schwung mitreissen und staunen, wie Chailly das Tempo hält und die düster-schwindelerregende, das gesamte Spektrum des Regenbogens umfassende Farbpalette schwingt.
Von „Daphnis und Chloé“ hat Chailly nicht das gesamte Ballet – das für Sergij Diagilev und das Ballets russes geschrieben wurde – sondern die zwei Suiten gewählt. Als Höhepunkt der Blu-ray darf eine mustergültige in jeder Hinsicht beispielgebende Interpretation des der Tänzerin Ida Rubinstein gewidmeten „Bolero“ gelten. Ganz langsam die Spannung erhöhend und ohne die Steigerungen künstlich noch einmal zu forcieren, braucht Chailly für das Stück 18 Minuten, und damit fast genau so lang wie Celibidache. Das Gros der Dirigenten hält den Richtwert von 16-17 Minuten ein.
Chailly feiert mit dem klangschön und äußerst präzise musizierenden, 2003 von Abbado gegründeten Festival-Orchester, diese Apotheose des Tanzes als virtuoses Spektakel. Die stupende Orchesterkultur sprengt alle Vorstellungen und Erwartungen: Kein Wunder, treffen unter dem Signum dieser Formation doch allsommerlich am Vierwaldstättersee Solisten und Kammermusiker, Musikprofessoren, Stimmführer europäischer Spitzenorchester sowie Mitglieder des Mahler Chamber Orchestra und der Filarmonica della Scala aufeinander. Viele der Musiker verbringen in Luzern ihre Ferien, „um frei von Routine und Reglementierung“ sinfonisches Repertoire miteinander zu gestalten.
Riccardo Chailly gelingen mit diesem ihm auf seinen poetischen Traumpfaden folgenden Luzern Festival Orchestra luzide Wiedergaben. Auch filmisch ist der Mitschnitt ein Genuss. Da fügen sich die Videoeinstellungen, der Schnitt und die Bild- und Tonqualität auf das trefflichste zu einem spannungsgeladenen einheitlichen Ganzen.
Dr. Ingobert Waltenberger