Blu-ray/DVD MODEST MUSSORGSKY: BORIS GODUNOW – aufgenommen am 21.3.2016 im Royal Opera House Covent Garden; Opus Arte
Bryn Terfel, John Tomlinson und Ain Anger als stimmgewaltige Protagonisten in einer ästhetisch biederen Inszenierung von Richard Jones
Im Juni 2017 hatte sie in Berlin Premiere. Die ungewöhnliche Ko-Produktion des für konservatives Ausstattungstheater bekannten Londoner Opernhauses und der mit mehr oder weniger Geschick experimentelles (deutsches) Regietheater erprobenden Deutschen Oper Berlin führte zu einem szenisch braven, optisch wenig ansprechenden Theaterabend. Szenisches Fazit des nun erschienenen Mitschnitts: Praktikables Reisesetting als Ausdruck eines kleinen gemeinsamen Nenners. Das Einheitsbühnenbild von Miriam Buether zeigt einen die Szene verengenden, kahlen, mit reliefierten Glocken schwarz gefliesten Raum, darüber ein zu den Rändern hin schmal verjüngendes goldtapeziertes Deckengewölbe als zweite Mini-Spielebene. Diese beiden Räume stellen mit jeweils wenigen Requisiten adaptiert beliebig Kloster, Kreml, Schenke, die privaten Gemächer des Zaren, den Vorplatz zur Basilius-Kathedrale oder die Versammlung der Bojaren im Kreml dar.
Gespielt wird die kargere Urfassung ohne große Frauenrolle (Marina wurde in einer deutlich erweiterten, eindeutig populäreren Variante erst 1872 dazu erfunden) von 1870 in sieben Szenen auf das vom Komponisten selbst verfasste Libretto nach dem gleichnamigen Drama von Alexander Puschkin. Spieldauer: etwas über zwei Stunden. Der Vorteil dieser ersten, dramaturgisch stringenten Fassung ist, dass sie sich ausschließlich auf Wesentliches wie die Krönung, das ambivalente Schwanken des Zaren zwischen Gerechtigkeit, sozialem Gewissen und zunehmenden paranoiden Schüben des zwar gewählten, aber durch Kindesmord am Zarewitsch Dimitry an die Macht gekommenen Boris Godunow konzentriert.
Szenisch medioker und filmisch (Jonathan Haswell) wenig ergiebig, glänzt die Londoner Premiere jedoch mit einer in den männlichen Rollen hervorragend glaubwürdigen Besetzung.
Allen voran Bryn Terfel als autoritären, für die Probleme des Volkes nicht tauben, zunehmend in Wahn und Halluzinationen abgleitenden, final unter der Last der Schuld kollabierenden und im Angesicht des Todes um Vergebung flehenden Herrschers. Terfel gelingt darstellerisch ein packendes Drama um den ehrgeizigen Aufstieg und den unaufhaltsamen Verfall eines um Anspruch und Ethik ringenden Mannes, den der für die Machterlangung feige Mord am jungen Dmitri schlussendlich selber niederstreckt. Ja, politische Macht ist oft ein intrinsisch dreckiges Geschäft. Stimmlich findet Terfel nach einem wackeligen Anfang in der Krönungsszene spätestens in der Auseinandersetzung mit Shuiski und dem Aufeinandertreffen mit dem Heiligen Narren zu ganz großer Form. Terfels Bass klingt unstet rauher und vibratoreicher als etwa die großen Vorgänger George London oder Nicolai Ghiaurov (habe ich in dieser Rolle einige Male erlebt).
Für einen charismatischen und vokal kernig-mächtigen Singdarsteller wie Terfel schlägt mit dem Boris die volle Stunde. Die Vielschichtigkeit von Macht und Privatem sowie die zerrissene Seele des Charakters kulminieren in Terfels vor menschlichem Gewissen (ver)glühender Interpretation in so etwas wie einem prototypisch gültigen Welttheater. Rundherum erleben wir charaktervolles Spiel und gut gewählte Typen.
Jeremy White rüpelt als Vogt Nikitsch bassbrummig grob das Volk an, lobpreisend den unentschiedenen Boris dazu zu bewegen, die Zarenkrone zu akzeptieren. Adrian Clarke gibt den ackerschollenderben Bauern Mityukha.
Ain Anger verkörpert als zerfurchter Chronist Pimen im Kloster Tschudow mit einer beeindruckenden Fülle an hellkörnigen Bassfarben und elegantem Vortrag ein sich dem Ende zuneigendes Momentum redlicher intellektueller und moralischer Geschichtserzählung. Novize Grigori Otrepiev nutzt das Wissen, um sich selbst als falscher Dmitri an einem Umsturz zu versuchen.
David Butt Philipp reüssiert mit schneidendem Charaktertenor als verschlagen-düsterer Fanatiker, schließlich in Russland gescheiterter und steckbrieflich auf der Flucht in einem Gasthaus an der litauischen Grenze gestrandeter Outlaw Grisha.
Mit einem Kabinettstück der Sonderklasse erfreut der nach wie vor stimmsaftige opernlegendäre John Tomlinson und seinem almosenheischenden Kumpel Missail (Harry Nicoll) im Schlepptau als versoffener Mönch Varlaam. Diesem mit allen trüben Wassern gewaschenen, das Ende der Welt verkündenden Schwerenöter ist es ein Leichtes, den feist nach dem rotschopfigen jungen Grisha fahndenden Grenzpolizisten (James Platt) auf die richtige Fährte zu bringen.
John Graham Hall in der Rolle des von Boris der Illoyalität verdächtigten glatten Prinzen Vasiliy Ivanovich Shuiski stellt im gespenstischen Aufeinanderprallen mit Boris den realen Gegenpol zum immer mehr in eine imaginierte Usurpation abdriftenden Boris dar. „Dmitri“ sei zwar in Polen als rechtmäßiger Zar aufgetreten und habe bemerkenswerten Anhang gefunden, wirklich erschüttert wird Boris durch den Bericht Shuiskis, dass der aufgebahrte kleine Zarewitsch auch nach etlichen Tagen nach dem Tod trotz klaffender Wunde am Hals noch keinerlei Anzeichen von Verwesung aufweist.
Andrew Tortise darf als schwachsinniger, doch hellsichtiger Gottesnarr den Zaren mit dem Mord an Dmitri konfrontieren, ohne gleich gelyncht zu werden. Ohne diese blechkübelbehutete Figur stimmkarikatural zu diskreditieren, wird der Narr zur Metapher für die ehrliche, innere Stimme des Volkes.
Rebecca de Pont Davies als Schankwirtin, Sarah Pring als Amme, Vlada Borovko als Boris‘ Tochter Xenia und Ben Knight als Fjodor ergänzen das von der Personenregie stückadäquat geführte Ensemble.
Das eigentliche Ereignis der Aufführung ist dem Orchester und dem Chor des Royal Opera House Covent Garden unter der aufwühlenden musikalischen Leitung von Antonio Pappano zu verdanken. Dieses von Mussorgsky als universelles Drama vertonte Stück lebt von der Einbettung der russischen und zentralasiatischen Folklore in stets schematische Gesetze von Macht, die Individuen sezierende, die Rolle des Volkes brutalisierende Klänge. Dem musiktheatralischen Genie Mussorgskys ist es zuzuschreiben, dass die kreatürliche Wirkung der Musik sich durch die Verquickung hypnotisch verinnerlichter Gebete, groben Humors, kindlicher Unschuld, höllendämonischen Wahns und metaphysischer Verklärung immens steigert. Für all das findet Pappano den jeweils treffsichern instrumentalen Ausdruck. Schon dafür lohnt sich zu der in den Hauptrollen fantastischen Besetzung die Beschäftigung mit dieser musikalisch eindringlichen Ton-Filmkonserve.
Dr. Ingobert Waltenberger