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Blu Ray/DVD: LÉO DELIBES LAKMÉ – Filmmitschnitt vom Oktober 2022 aus der Opéra Comique Paris; NAXOS

15.11.2023 | dvd

Blu-ray/DVD: LÉO DELIBES LAKMÉ – Filmmitschnitt vom Oktober 2022 aus der Opéra Comique Paris; NAXOS

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Koloraturwunder Sabine Devieilhe magnetisiert als ätherisch feenzarte Lakmé

Indien der Kolonialzeit: Die unglückliche Liebe zwischen einem feschen Offizier der britischen Besatzungsarmee, der natürlich schon mit der Landsfrau Ellen verlobt ist und der Tochter des Brahmanenpriesters Nilakantha, Lakmé, erinnert im Kern an Puccinis „Madama Butterfly“, nur dass hier kein Kind im Spiel ist. Mann und Frau der beiden Paare sind zwischen Loyalität/Ehrenkodex und einer exotisch aufregenden Liebe hin- und hergerissen. Die in ihrer Liebe freilich kompromissloseren Protagonistinnen begehen Selbstmord, als sie die Aussichtslosigkeit ihrer Gefühle und Lage begreifen.

„Lakmé“, eine der musikalisch schönsten französischen Opern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, erlebt aktuell eine veritable Renaissance. Besonders verbunden ist diese ungleiche Liebesgeschichte vor dem Hintergrund politischer und kultureller Differenzen zwischen dem Militär der britischen Regierung und einem fanatischen religiösen Führer, natürlich mit dem Theater der Uraufführung. An der Opéra Comique Paris erreichte die 1883 aus der Taufe gehobene „Lakmé“ die 100. Aufführung 1891, die 1000. schon1931 und die 1500. schließlich 1960 mit Mady Mesplé und Alain Vanzo in den Hauptrollen. Derzeit hält man bei über 1.600 Aufführungen. Sowohl Natalie Dessay als auch Sabine Devieilhe gaben ihre Rollendebüts als Lakmé an der Opéra Comique, die eine 1995, die andere 2014.

Die Inszenierung von Laurent Pelly ist die siebte in der Salle Favart, wie das Théâtre de l’Opéra-Comique von den Parisern noch genannt wird. In abstrakten Kulissen aus einfachem Reispapier geschnitten, die hintereinander geschichtet und verschiedentlich beleuchtet, eine bergige Landschaft in dunstiger Hitze suggerieren, eine aus Bambusstangen luftig gebaute Hütte und ein ebensolcher Wagen, ein aus in unterschiedlicher Höhe und Tiefe gestelzt arrangierten Papierbahnen stilisierter Markt sowie ein weißes Blütenrondo im dritten Akt ergeben das simple Bühnenbild von Camille Dugas.

Auf Aktualisierungen und ein vordergründiges Polittheater hat Pelly verzichtet. Ihn interessieren im Wesentlichen die Interaktion zwischen streng religiösem Vater und überaus begabter Tochter, die mit ihren Gesängen die Gläubigen im Tempel zu spiritueller Andacht anhält sowie die „Mesalliance“ zwischen diesem einfachen, aber ernsthaft und vergeistigten indischen Mädchen und dem nur dem Augenblick huldigenden, verantwortungslosen britischen Marineoffizier.

„Lakmé“ geht auf zwei literarische Grundlagen zurück: Den Roman „Le Mariage de Loti“ von Pierre Loti, der von der tragischen Beziehung eines Offiziers mit einer tahitianischen Frau handelt und die Kurzgeschichte „Scènes de la vie anglo-hindoue“ von Theodore Pavie, die von der Rache eines Brahmanen an einem Engländer erzählt. Die anspruchsvolle Titelpartie hat Delibes Marie Van Zandt auf den Leib komponiert.

Heute glänzt die lyrische Koloratursopranistin Sabine Devieilhe in der Titelrolle. Mit ihren traumhaften Legatobögen, den himmlischen Piani, aber auch der stupenden Virtuosität der Koloraturen in der Glöckchenarie, der gezähmten Leidenschaft und fragilen Schönheit der Gestaltung, ihrem fesselnden Charisma ist sie schlichtweg eine Idealbesetzung. Kein Erdenrest haftet diesem Märchenwesen an, alles an ihr ist Hingabe und über den Tod hinaus dem Schutz des Geliebten gewidmet, bevor sie sich mit der Blüte einer Datura vergiftet. (Anm.: Da Gérald aus dem Elfenbeinbecher das Wasser aus der heiligen Quelle getrunken hat, ist er für die Rache des Nilakantha unantastbar).

Aber bevor es soweit ist, singt Devieilhe noch mit der Mezzosopranistin Ambroisine Bré (Mallika) das jasmin- und rosenduftigste Blumenduett, das ich je gehört habe, in der Harmonie der Stimmen und der Pianokultur übertreffen sie sogar Joan Sutherland und Jane Berbié in der Decca Aufnahme aus dem Jahr 1967.

Leider kann ihr Tenorpartner Frédéric Antoun als untreuer Lover Gérald der Devieilhe an Raffinesse in der Phrasierung und Leichtigkeit der Tongebung nicht das Wasser reichen. Erfreulicherweise hat der Kanadier Antoun keine weiße Stimme, sondern einen dunkel timbrierten Tenor mit dramatischem Aplomb. So ansprechend Antouns Tenor in der Mittellage klingt, so stören trotz einer passionierten, glaubhaften Charakterisierung der Figur auf Dauer seine Einheitslautstärke, die ausschließlich im forte angesungenen Höhen und die Mühe, die es ihn kostet, mit der hohen Tessitura zurechtzukommen.

Wie das mit einer traumwandlerisch sicheren und frei geführten Tenorstimme in diesem heiklen Genre klappen kann, beweist der großartige François Rougier in der kleinen Rolle des Hadji. Sein „Le maître ne pense qu’a sa vengeance“ wird zu einem Lehrstück an stilsicherem Vortrag, da ist er dem legendären Alain Vanzo heiß auf der Spur. Toll.

Stéphane Degout überzeugt als Nilakantha einmal mehr mit kernig schwarzem Bariton, explosiven Emotionen und unglaublicher Bühnenpräsenz. Ovationen des Publikums waren ihm sicher.

Philippe Estèphe als Gérards Militärkumpan Frédéric, Elisabeth Boudreault als Ellen, Marielou Jacquard als Rose und Mireille Delunch als vielleicht allzu damenhafte Mistress Bentson vervollständigen das sehr gute Ensemble. Die Leistungen von Devieilhe, Degout, Bré und Rougier dürften als maßstabsetzend gelten.

Was den Abend musikalisch über viele andere hebt, sind Chor und Orchester des Ensembles Pygmalion, die unter der musikalischen Leitung des ehemaligen Countertenors Raphaël Pichon die noch immer in den Spielplänen im Vergleich zu Carmen & Co unterrepräsentierte Oper völlig neu aufleben lassen. Erst wenn diese wundersame Partitur aus betörendem Klangparfum, impressionistischer Durchsichtigkeit, mächtigen Chor-Tableaus, witzigen, die staksigen Briten auf die Schaufel nehmenden Ensembles und der romantisch herzzerreißenden Schwelgerei der Arien und Duette von Tenor und Sopran, in instrumentalen Details wie wortausdeutend präzise, in den Klangfarben feinst aufeinander getrimmt, dabei den großen dramatischen Bogen im Blick, realisiert wird, ist von einem ganz großen Opernabend zu berichten.

Fazit: Schon wegen der unvergleichlichen Sabine Devieilhe, darstellerisch und gesanglich in Topform sowie Raphaël Pichons karamell-krokantem Dirigat unverzichtbar! Auch die liebevolle filmische Umsetzung dieser Co-Produktion mit der Opéra national du Rhin und der Opéra Nice Côte d’Azur durch Francois Roussillon überzeugt mich vorbehaltlos.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

 

 

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