Blu-ray/DVD Georges Bizet: CARMEN in der historischen Inszenierung von 1875; Palazzetto Bru Zane
Gefilmt im Théâtre des Arts in Rouen von Camera lucida und France Télévisions (September 2023)
Zum 150. Jahrestag der Uraufführung von Carmen hat sich die Fondation Palazzetto Bru Zane was einfallen lassen. Man entschied sich nicht für eine zusätzliche Version regietheaterlicher Überschreibung von Handlung und Dramaturgie, sondern für das Experiment, Originalbühne, Kostüme und Bühnenbild zu rekonstruieren. Wie sah Carmen im 19. Jahrhundert szenisch aus? Zur Kommunikation dessen bedurfte es filmischer Mittel. Daher hat das Label Bru Zane erstmals eines seiner gediegenen Musikbücher im Videobreitformat produziert. Und noch eine wesentliche Neuerung für weniger fremdsprachenaffine Melomanen ist zu vermelden: Die Texte und Aufsätze sind nun auch in deutscher Sprache verfügbar!
Die Historiker haben sich auf sogenannte Bühnenmanuale gestützt, in denen farbige Designs von Sets und Kostümen, Platzierungsskizzen und Bewegungsdiagramme (Auftritte, Abgänge) enthalten sind. Dazu kamen Forschungsarbeiten von Rémy Campos und Aurélien Poidevin über die Kodifizierung verschiedener Körperhaltungen, Bewegungen und Mimik der damaligen Zeit, nach denen das „Bühnenpersonal“ sich gewöhnlich orientierte. Wie Alexandre Dratwicki wissen lässt, verfügt Palazzetto Bru Zane nun über etwa 2000 solcher Manuale und verwandter Dokumente, die online über die Bibliothèque Historique de la Ville de Paris abrufbar sind.
In dieser Logik sah man es an der Zeit, dieses umfassende Material einmal in einer konkreten Produktion zu erproben. Nicht mit historischen Scheuklappen, sondern „visuell historisch informiert“ sozusagen, wie dies etwa bis vor kurzem an der Deutschen Oper Berlin anhand der „La Gioconda“ Inszenierung von Filippo Sanjust zu erleben war.
Natürlich sollte es sich um Vorlagen handeln, die die Virtuosität und Gestaltungskraft der romantischen Bühnen- und Kostümbildner am spektakulärsten zum Ausdruck brachten. Was also lag näher, als „Carmen“ mit ihren vier so unterschiedlichen Schauplätzen zu wählen, die innen und außen, Tag und Nacht gleichermaßen fordern. Der schwierige restaurative Vorgang an der Opéra de Rouen Normandie (von den Bühnenbildern war man auf Presseabbildungen angewiesen, die Lichtfrage ohnedies nicht zu lösen – Gasbeleuchtungen waren wesentlich gedämpfter/wärmer, als wir es heute auf der Bühne gewohnt sind) wurde von der internationalen Presse kritisch beäugt, obwohl die Veranstalter laut Set-Designer Étienne Jardin nicht vorhatten, ein neues Modell schaffen zu wollen oder die Leere vieler Regietheaterproduktionen aufs Korn zu nehmen.
Wir können nun via Blu-ray oder DVD (beide Formate werden in der Edition angeboten) sehen, was das musikarchäologisch unterstützte Kreativteam (Romain Gilbert Inszenierung, Vincent Chaillet Choreografie, Pantomime, Antoine Fontaine Bühnenbild, Christian Lacroix Kostüme, Hervé Gary Licht) aus den Vorlagen und bunten Lithographien gezaubert hat.
Natürlich ist das Ergebnis im Endeffekt bei aller Poesie und Authentizität der gemalten Prospekte ein durch und durch heutiges, zumal man sich im Hintergrund der heutigen Technik (mit viel schnelleren Umbauzeiten zwischen Akt 1 und 2 sowie Akt 3 und 4, historisch sind drei Umbaupausen von jeweils an die 30-40 Minuten belegt) bedient als auch die Sängerinnen und Sänger stilistisch wie darstellerisch ihr Sosein in der Jetztzeit widerspiegeln.
Der Kostümbilder Lacroix konnte sich bei den Hauptfiguren auf vorhandene Modelle stützen, bei anderen, kleineren Rollen nicht. Auch der Regisseur musste natürlich mit seinen kreativen Mitteln den formal gesicherten Rahmen, den die auf Positionen zentrierten Dokumente vorgaben, gestisch und mimisch füllen. Romain Gilbert, den ich das Vergnügen hatte, während meiner Pariser Zeit und seiner Beschäftigung an der Opéra de Paris kennenzulernen, nutzt seine gestalterische Freiheit kenntnisreich, mit Umsicht und vielen liebevollen Details, die das Verhältnis der Personen zueinander feinzeichnen. In Kenntnis zahlloser regietheaterlicher Exzesse würde ich gerne von einer konventionellen Personenführung im besten Sinne sprechen.
Für die Realisierung wurde absichtlich eine „durchschnittliche“ französische Bühne samt „Hausbesetzung“ abseits jeglichen Stimmen-Startums gewählt, damit zu beweisen ist, „dass eine solche Wiederaufführung in jedem heutigen Theater funktionieren kann.“ Das ist wichtig zu erwähnen, denn bei der Besetzung zweier Hauptrollen, und zwar Don José mit dem heldisch sehr ansprechenden, aber wenig schmelzreichen Stanislas Barbeyrac sowie Escamillo mit dem herb trockenen Nicolas Courjal bleibt doch so mancher Wunsch offen. Deren Hits hat man schon sinnlicher und farblich üppiger gehört. Dagegen bieten die Micaëla der hinreißenden Julia Maria Dan und die ungewohnt lyrische, hell timbrierte Carmen der blendend aussehenden Deepa Johnny vokale Gustostückerln vom Feinsten. Faustine de Monès (Frasquita), Floriane Hasler (Mercédès), Yoann Dubruque (Moralès), Florent Karrer (Le Dancaïre), Thomas Morris (Remendado) und Nicolas Brooymans (Zuniga) ergänzen das Ensemble in beachtlicher Spielfreude.
Musikalisch haben sich die Produzenten für die Version mit Rezitativen von Ernest Guiraud entschieden, also keine gesprochenen Dialoge, sondern gesungene. Gespielt wurde nach der überarbeiteten Edition Choudens. Ben Glassberg dirigiert das Orchestre de l’Opéra de Rouen Normandie (besonders erwähnenswert ist das charaktervolle Holz), den bemühten Choeur accentus sowie den Kinderchor de la Maitrise du Conservatoire de Rouen mit rhythmischer Sorgfalt, Liebe zum Detail und Schwung, eher französisch auf Balance und feine Tonmalerei bedacht als mit „spanisch“ dickerdiger Wucht aufgetragen, wie das in unseren Breiten nicht selten in Verkennung des kulturellen Backgrounds geschieht.
Das Booklet enthält Texte über die Genealogie der Produktion samt historischer Grundlagen (von Alexandre Dratwicki, Antoine Fontaine, Romain Gilbert, Étienne Jardin und Christian Lacroix) sowie viele gute Fotos der Bühnenbilder und Protagonisten in den bunten Kostümen von Christian Lacroix.
Ko-Produktion von Château de Versailles Spectacles, Opéra de Rouen Normandie, Bru Zane France und Palazzetto Bru Zane.
Eine interessante Begegnung mit „Carmen“ im fesch-historisierenden Kleid, wenngleich die musikalische Seite zwar gediegen und seriös gearbeitet, aber nicht exzeptionell ausfällt.
Dr. Ingobert Waltenberger