Blu-ray/DVD ENGELBERT HUMPERDINCK: KÖNIGSKINDER – Live Mitschnitt aus der De Nederlandse Opera Amsterdam vom Oktober 2022; NAXOS
Daniel Behle und Olga Kulchynska als Opern-Märchenpaar Königssohn und Gänsemagd
„Müde ihrer gemästeten Freiheit sind die Bürger von Hellastadt.“ Der Spielmann
Regisseur Christof Loy und sein Bühnenbildner Johannes Leiacker sind ein zuverlässiges Produktionsteam und stehen für (klinisch) sauberes, die Stücke und ihren Inhalt ernst nehmendes Regietheater. Zig- mal zum Regisseur des Jahres gekürt und theaterpreisüberhäuft, ist Loy in etlichen europäischen Opernwassern heimisch. Die mit ihm und seinem Team verbundene, längst etablierte Marke besteht aus optisch vorwiegend in weiß gehaltenen, künstlich abstrakten Bühnenwelten, die durch eine minutiös detailgenaue und stückadäquate Personenregie belebt, erzählerisch wie am Schnürl funktionieren. Den Sängerinnen und Sängern, also der Musik, bleibt – spürbar liebevoll angeleitet – Raum für Interpretation und individuelle Gestaltung.
Die Amsterdamer Neuinszenierung von Engelbert Humperdincks musikalisch viel zu wenig gewürdigter Oper „Königskinder“ zählt zu ihren besten Arbeiten. Da wird die tragische Liebes- und Märchengeschichte rund um das naiv-seelengute Gespann Königssohn und Gänsemagd so geradlinig und poetisch erzählt, wie sie ist. Vor einem weißen Bühnenhintergrund sehen wir den Lindenbaum und die kleine Hexenhütte im Hellawald, bunt-hölzerne Spielzeuggänse auf Rädern und Stoffblumen bringen sogar etwas Farbe ins Geschehen. Im zweiten Akt genügt für den Stadtanger von Hellabrunn die Linde, einige Tische und Girlanden, während im tiefen Winter des dritten Akts die verkohlte Hütte der verbrannten Hexe und der schneebedeckte Baum den tristen Rahmen für letztes Aufbegehren und halluzinatorisch erlöstes Liebesterben unseres Heldenpaars abgibt. Der weiße Hintergrund weicht nach dem Hungertod der Gänsemagd und des Prinzen einer schwarzen Trauerwand. Nur die als schöne Metapher für die Liebe hinzu erfundene Bühnenfigur der Solo-Geigenspielerin (Camille Joubert), die ihren Geigenbogen in ihren Auftritten als Blindenstab einsetzt und der mit den Kindern zurückgekommene Spielmann geben dem toten im Eis umschlungenen Paar die letzte Ehre. Und die bessere Welt? Auf die wird man im Märchen und auf Erden wohl noch lange warten müssen.
Denn die in metaphysischer Liebes- und Wahrheitssehnsucht überhöhte Geschichte einer verrohten, durch Gewalt, Korruption, Wucher, materielle Gier, Egomanie und Falschheit gezeichneten Gesellschaft, die auf einen Wunderwuzzi zählt, um sie von Problemen zu befreien und zu erlösen, um nach der Erkenntnis, dass es keinen gibt bzw. sie ihn in ihren engen Gedankenmustern befangen nicht zu erkennen vermag, nur umso brutaler zuzuschlagen, könnte aktueller nicht sein. Dass in dieser Oper ausgerechnet Kinder und junge Leute diejenigen sind, die die scheinbar gesetzte Wirklichkeit nicht so hinnehmen, wie sie ist, und den Zukunftstraum nicht aus dem Blick verlieren wollen, fügt sich nicht zuletzt fast schon unheimlich passend ins Heute.
Dass Loy auf banalisierende Aktualisierungen des in pathetischen Versen deklamierenden Librettos von Ernst Rosmer alias Elsa Bernstein-Porges verzichtet und stattdessen ganz auf lyrisch dichterisches Theater setzt, ist ihm hoch anzurechnen. Das Einzige, was Loy dem penibel dramaturgisch umgesetzten Märchen hinzufügt, sind nicht weiter störende, aber die Handlung auch nicht besonders erhellende Tanztheatereinlagen während der orchestralen Einleitungen zum ersten der (Königssohn) und zweiten Akt (Hellafest und Kinderreigen) sowie während der Einleitung zum dritten Akt eine in schwarz-weiß gedrehte Stummfilmeinlage mit Verurteilung und Verbrennung der Hexe sowie Verstümmelung des Spielmanns.
Musikalisch halte ich die „Königskinder“ für die beste in sog. „neudeutscher“ Schule verfasste Oper nach Wagner. In der Differenzierung und Verfeinerung der musikalischen Mittel weitaus komplexer als die bedeutend erfolgreichere Märchenoper „Hänsel und Gretel“ hat Humperdinck hier seine ganz spezifische Art der Amalgamierung von volkstümlichen Melodien und reicher komplexer Harmonik zu einer träumerisch-spätromantischen, ausdrucksintensiven Musiksprache zur Vollendung gebracht. Die Anklänge an „Die Meistersinger von Nürnberg“ im ersten und zweiten und „Tristan und Isolde“ im dritten Akt sind ihr ungemein geschickt anverwandt.
Musikalisch haben wir es mit einer stufenweisen entstandenen Oper zu tun. Die Autorin des Librettos wollte ursprünglich ihren Text lediglich durch Zwischenaktmusiken, Tänze und knapp ergänzende musikalische Einlagen dekoriert wissen. Humperdinck hingegen schlug nach einer Italien-Reise vor, die Vorlage mittels Sprechnotenschrift (die nicht die absolute, sondern nur eine relative Tonhöhe festlegt) als gebundenes Melodram zu gestalten. 1896 war Humperdincks damit fertig und musste bei den Proben in München feststellen, dass die engagierten Schauspieler kaum in der Lage waren, seinen Intentionen zu folgen. Dennoch, der Erfolg war nach zahlreichen Änderungen und trotz grundlegender musiktheoretischer Diskussionen durchschlagend, das Modell des (von Wagner strikt abgelehnten) Melodrams wurde später von Komponisten wie Schönberg, Berg und Boulez aufgegriffen. Auf eine Anfrage Berlins hin überarbeitete Humperdinck das Melodram zu einer durchkomponierten großen Oper. Uraufgeführt wurde sie am 28. Dezember 1910 an der New Yorker Met.
Zeitensprung nach Amsterdam 2022: Zur Realisierung des musikalisch anspruchsvollen Werks steht dem leading team eine bis in die kleinste Rolle vokal und darstellerisch exzellente Besetzung zur Verfügung.
Allen voran die in der Ukraine geborene und die ersten künstlerischen Sporen am Moskauer Bolshoi Theater absolviert habende Olga Kulchynska als sechszehnjährige Gänsemagd. Als eine Art elternloser weiblicher „Parsifal“ – der Vater, er war ein wegen Mordes am „frechen Jungherrn“ zum Tode verurteilter Henkersknecht, die Mutter die Henkerstochter – will sie mutig der durch den Bannspruch der Hexe bewirkten Enge des Waldes entfliehen. Sie träumt von einem Sommerjahr im Tal bei den „schönen, freundlichen und holden Menschen“ und auf ein Wiedersehen mit dem Königssohn. Dem tödlichen Zauberbrotrezept der Hexe fügt sie einen Segen an, der demjenigen, der davon isst, das Schönste sehen lässt, was er sich wünscht. Kulchynska, aktuell Ensemblemitglied an der Oper in Zürich, singt die Magd auf ihrem harten Erkenntnisweg mit lyrisch aufblühenden Kantilenen. Ihr subtil feminines Spiel verleiht dem naiv neugierigen Naturwesen der Gänsemagd von der zweifelnden Furcht der Erstbegegnung mit dem Prinzen („Bist Du ein Mensch?“) bis zur bereitwillig den ekstatischen Tod akzeptierenden liebenden reifen Frau natürliche Kontur. Ihr Gebet “Vater, Mutter“ gestaltet sie mit herzzerreißender Innigkeit. Der frei fließende, vom opulenten Timbre her ein wenig an Lucia Popp erinnernde lyrische Sopran gehört mit zum hinreißendsten, was derzeit auf Opernbühnen zu erleben ist.
Ihr zur Seite glänzt der bereits wagnergestählte, nach wie vor grundsätzlich im Lyrischen beheimatete Tenor des Daniel Behle als Königssohn, der das Schloss verlassen hat, um auf Wanderschaft unerkannt Menschen und Welt kennenzulernen. Der auch im Liedgesang erfahrene Künstler kann mit einer unerschöpflichen Palette an Klangfarben, schwärmerischer Poesie genauso punkten wie mit heldischer Tristanscher Todesverzückung im dritten Akt: „Mir flammt es, Dich heimzuführen. Begierde – ich trag Dich hinan die breiten Stufen auf das Gitter“ ich höre sie rufen. Jauchzen dröhnt durch das ganze Reich – komm, o komm meine Königin“!
Doris Soffel als ein Stück zu elegante (für die in Naturleinentönen cremerfarben gehaltenen Kostüme zeichnet Barbara Drohsin verantwortlich), die Magd hermetisch von der Außenwelt abzirkelnde wie herrische Hexe ist wahrlich ein Stimmwunder. Neben einer charismatischen, jedem extrovertierten Übereifer abholden Bühnenpräsenz singt Doris Soffel mit einer in allen Lagen intakten, vom üppigen Mezzotimbre her gehaltvollen Stimme wie eh und je. Die seit ihrem Debüt vergangenen 50 Bühnenjahre will man ihr kaum abnehmen. Auch in der Filmsequenz – wir erinnern uns – die Hexe wird wegen Irreführung des Volkes hingerichtet – gelingen Soffel rein mimisch Augenblicke dichtester Präsenz.
Josef Wagner als allzu schlau-pfiffiger Spielmann, der der Stadt zu einem König verhelfen soll, und seine typengerecht gezeichneten Kumpanen Holzfäller und Besenbinder (Sam Carl, Michael Pflumm) agieren stimmlich präzise gezeichnet. Ob die allzu breite, teils gaumige Stimmführung von Wagners an sich schön samtigem Bariton dafür verantwortlich ist, dass er im dritten Akt im hohen Register unfrei wirkt?
Engelgleich pur verkörpert Isabel Houtmortels die Tochter des Besenbinders. Kai Rüütel und Roger Smeets (Wirtstochter, Wirt) verkörpern in markanter Gestik die auf Habgier und Betrug gebaute unsolidarische Seite der Gesellschaft. Musical-Altstar Henk Poort übernahm die kleine Rolle des Ratsältesten.
Der Chor des Hauses und das Niederländische Philharmonische Orchester lassen die Partitur unter der in diesem Fach bewährten musikalischen Leitung von Marc Albrecht in irisierender spätromantischer Klangpracht erstehen. Die Essenz des Klangs ist ja bei Humperdinck nicht zuletzt ein Mittel, um in einer musikalisch utopischen Vision gelebte Reinheit und Güte, Liebe und Mut in so etwas wie eine duale Erlösung münden zu lassen. Was in Amsterdam berührend und in jeder Hinsicht märchenhaft gelingt.
Dr. Ingobert Waltenberger