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Blu-ray/DVD ADOLPHE ADAM „LE POSTILLON DE LONJUMEAU“ – Live-Verfilmung aus der Opéra Comique Paris vom April 2019; NAXOS

24.07.2020 | dvd

Blu-ray/DVD ADOLPHE ADAM „LE POSTILLON DE LONJUMEAU“ – Live-Verfilmung aus der Opéra Comique Paris vom April 2019; NAXOS

Oper in der Oper ist ein dankbares und vielfältiges Sujet, wie wir von Mozarts „Schauspieldirektor“ oder der „Ariadne auf Naxos“ von Richard Strauss wissen. Die frz. Opernkomödie „Le Postillon de Lonjumeau“ hat es als flotte Ehefarce auf einen charakterlich – nun sagen wir – karriereorientierten Tenor abgesehen. Der soll im Saft der eigenen Untreue und Durchtriebenheit schmoren. Aber die Oper ist auch ein liebevoller Schwanengesang auf den damals populären Berufsstand des Postkutschers mit Horn und Peitsche. Im Entstehungsjahr der Oper 1836 ist nämlich die erste zivile Eisenbahnlinie in Frankreich im Bau, die 1837 ihren Betrieb aufnehmen wird….

Dank des bis in die Stratosphären des hohen D reichenden Reißers „Ah mes amis, qu’il était beau, le postillon de Lonjumeau!“ (Nicolai Gedda sang das einst zum Niederknien gut), aber auch einer schönen, stilistisch an Rossini anknüpfenden Arie für den Bassbariton Alcindor im zweiten Akt, lyrisch ausufernder Duette sowie allerlei vokalen Zierrats für eine wendige Koloratursopranistin (Madame de Latour) darf das sanft-komische Stück auch als eine empfindsame Hommage an virtuose Sangeskünste gelten.

Die Story um unser ehrgeiziges, der Kutsche und vorübergehend dem Ehebett entsprungenes Goldkehlchen geht so: In Lonjumeau, einer frz. Stadt zwischen Paris und Orléans, feiert der schneidige Postillon Chapelou Hochzeit mit der feschen jungen Schankwirtin Madeleine. Sie verzichtet auf das Erbe einer reichen Tante, er auf den außerehelichen Einsatz seiner beachtlichen Verführungskünste. So weit so gut. Nur blöd, dass während der Hochzeit der Operndirektor Marquis de Corcy auftaucht, der auf Drängen des Königs Ludwig XV. einen Tenor für eine höfische Aufführung von Rameaus „Castor et Pollux“ sucht. Mit seiner glänzenden Naturstimme samt hohem C ist der Postillon dafür der richtige Mann. Da unvorstellbarer Ruhm und Glück winken, setzt sich der frisch Angetraute noch vor der Hochzeitsnacht klammheimlich nach Paris ab.

Nach einem Zeitsprung von 10 Jahren entwickelt sich ab Akt 2 ein Verwirrspiel um Rache und Verführung mit der dank Erbschaft von Madeleine zu Madame de Latour avancierten einst Sitzengelassenen als raffinierter Strippenzieherin. In ihrer Opernloge verführt die nun reiche Madame den berühmten Tenorstar Saint-Phar. Natürlich ist das unser Postillon, dem die Ähnlichkeit mit seiner eigenen Madeleine zwar auffällt, aber die Begehrte halt als die schönere Variante der Verlassenen begreifen will. Die zweite Hochzeit wird arrangiert, sonst ist es nämlich aus mit dem Hupfkonzert in Madames Bett. Da auf Bigamie die Todesstrafe durch Erhängen steht, ist es diesmal der Tenor, der eine gar nicht angenehme Hochzeitsnacht verbringt. Am Ende klärt Madeleine alles auf. Mit derselben Frau zweimal vor den Traualtar zu treten, erfüllt natürlich nicht den todeswürdigen Kriminaltatbestand. Das Happy End nach reumütigem Kniefall wird auch musikalisch ausgiebig gefeiert.

Der nun publizierte Film ist 2019 in der Opéra Comique in Paris entstanden. Die farbentrunkene, barock blumenschnörkelige Produktion von Michel Fou (Regie), Emmanuel Charles (Bühne) und Christian Lacroix (Kostüme) ist eine Kooperation von Opéra Comique und Opéra de Rouen Normandie. Einst war diese charmante Oper ein Erfolgsstück (bis zum Jahr 1894 gab es 569 Vorstellungen alleine an der Opéra Comique, dann war Schluss bis 2019), nun ist es eine Rarität. Die deutschsprachige Erstaufführung fand 1837 in Berlin statt. Auch auf Tonträgern führt „Le Postillon de Lonjumeau“ vergleichsweise ein Schattendasein: Zwei vergriffene Studioproduktionen und zwei historische Aufnahmen aus dem Jahr 1952. Und aus. Umso willkommener ist dieser musikalisch hochkarätige und szenisch doch ziemlich überkandidelte Mitschnitt. Unbefriedigend ist auf jeden Fall, dass sich die Personenregie auf das Dekorieren und Anordnen der Protagonisten in überladenen Tableaus reduziert. Da wäre, was die komödiantische Aktion betrifft, wesentlich mehr drinnen gewesen. Das reine Rampentheater vor den grell gemalten Kulissen wirkt auf Dauer zudem filmisch ermüdend.

Dafür ist der Abend musikalisch ein voller Genuss. Dafür sorgen in erster Linie der amerikanische, für schwierigste Aufgaben prädestinierte Tenorstar Michael Spyres in der Titelpartie und die aparte lyrische Koloratursopranistin Flori Valiquete als Madeleine. Spyres singt seine Arien und Ensembleszenen mit einer „anbetungswürdigen“ Geschmeidigkeit in der Mittellage, überhaupt ist da ein Stilist von Gnaden am Werk. Die Triller sind spektakulär, die Akuti sitzen technisch perfekt. Ob jemand bei einem hohen D aber noch von Wohllaut sprechen will, sei generell dahingestellt. Mit blasierter Mimik und wegwerfenden Gesten gelingt ihm auch darstellerisch ein – wenn auch etwas schwerfälliges – kammersängerisches Bravourstück. Der erfolgsverwöhnte Frauenheld und windig eitle Sänger feiert hier fröhliche Urständ.

Fiori Valiquete gibt mit verschwenderischem Augenaufschlag die junge Landpomeranze. Später als wissende Frau hält sie das Maß zwischen Rachelust und aufrichtiger Zuneigung und Treue. Das zeigt sich auch in der musikalischen Sprache. Während der Postillon selbstverliebt melodische Girlanden windet, endlose Triller spinnt und die hohen Töne balzend als erotische Zirkusnummer einsetzt, setzt Adolphe Adam bei dieser selbstbewussten Frauenfigur auf emotional differenziertere Töne. Da singt Madame/Madeleine doch mit Herzblut, was der Komödie eine gewisse Tiefe verleiht.

Der Intendant der kleinen Belustigungen des Königs, der dick geschminkte Marquis de Corcy, wird von Franck Leguérinel mit gutsitzendem Charakterbariton wortreich-komisch in Szene gesetzt. Seine verquere Verliebtheit in Madame gibt reichlich Anlass für lautmalerischen Witz. Die Rolle des Biju/Alcindor (durch den Postillon entthronter Dorfschöner aus Lonjumeau, der es an der Oper zum Choristen schafft) wird vom Bassbariton Laurent Kubla mit zünftig derben Basstönen ausstaffiert. Zwei exzellente Schauspieler ergänzen das sängerische Kleeblatt in Kurzauftritten. Der Regisseur Michel Fau selbst schlüpft in die Travestierolle der Rose, Dienerin von Madame. Yannis Ezziadi darf zu Beginn der Oper als Louis XV hysterisch stotternd nach einem Sänger verlangen, weil der Tenor für Rameaus Castor ausgefallen ist.

Am Pult des Orchestre de l’Opéra de Rouen Normandie und des Chors accentus waltet Sébastian Rouland mit Umsicht. Er bringt besonders die lyrischen Qualitäten der Partitur zum Leuchten. Die ‚Offenbachiaden‘ und Anleihen bei Rossini werden ohne Übertreibung organisch in den musikalischen Fluss mit eingebunden.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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