Blu-ray: CLAUDIO ABBADO und das LUCERNE FESTIVAL ORCHESTRA: GUSTAV MAHLER Symphonien Nr. 1 bis 7, Rückert-Lieder; EuroArts
Konzertmitschnitte vom Lucerne Festival 2003-2009 – Wiederveröffentlichung zur Feier seines 90. Geburtstag am 26. Juni 2023 und im Gedenken an den 10. Todestag des Dirigenten am 20.1.2024
Der Name Claudio Abbado, italienischer Maestro der Sonderklasse, ist eng verbunden mit der Mailänder Scala, der Wiener Staatsoper, dem London Symphony Orchestra und mit den Berliner Philharmonikern, die er nach Karajans Tod vom Oktober 1989 bis 2002 künstlerisch leitete und fortentwickelte. Seine Funktionen und Orchestergründungen sind Legion: Chef der Salzburger Osterfestspiele (1994), GD der Stadt Wien (1987), Gründer des Festivals Wien Modern (1988), der Klangkörper European Community Youth Orchestra (1978), Gustav Mahler Jugendorchester (1986), Orchester Mozart in Bologna (2003/2004) und als Krönung seines musikalischen Wirkens die Gründung des Lucerne Festival Orchestra 2003.
In Luzern geht es auf Arturo Toscanini zurück, für den man nach seiner aus politischen Gründen erfolgten Trennung von den Salzburger Festspielen 1938 rasch ein Elite-Festivalorchester zusammenstellte, dem u.a. das Busch Quartett angehörte. Von 1943 bis 1996, dem Jahr der Auflösung, bildete das Swiss Festival Orchestra mit vornehmlich Schweizer Instrumentalisten das Rückgrat der Festspiele, bis Intendant Michael Haefliger und Claudio Abbado beschlossen, Toscaninis Idee eines internationalen Projektorchesters ein Revival folgen zu lassen. Junge Musiker und Spitzensolisten spielten ab da in einer Formation, die es so luxuriös auf der Welt noch nie gab. Superstars der Klassik, ehrwürdige Professoren aus Wien und Berlin und Jungspunde trafen sich fortan zu 10 Tagen Proben und 10 Tage Aufführungen im August am Vierwaldstättersee. Mit Claudio Abbado als künstlerischem Leitstern, dem das Who is who der musikalischen Welt folgte. Die Mischung aus jungen Musikern, mit denen „man fliegen kann“ (so Abbado) und den besten ihrer Zunft aus den Reihen der Wiener und Berliner Philharmoniker und des LSO, ergab eine magische Allianz für das idyllische Luzern und führte darüber hinaus zu Gastspielen in Rom (2005) und Tokyo (2006).
2003 hub das Lucerne Festival mit dem neu geschaffenen Klangkörper und einem triumphalen Concert de Gala, und hierauf der Auferstehungssymphonie von Gustav Mahler an. Der Zuseher kommt aus dem Staunen nicht heraus, wenn er am Bildschirm der Aufzeichnung der Zweiten Mahler vom 21.8.2003 aus der Salle blanche des Convention Centre Lucerne bei der Cellogruppe Natalia Gutman, Gautier Capuçon, Franz Bartolomey und Clemens Hagen erkennt, unter den Geigern die Legenden der Berliner Philharmoniker Kolja Blacher und Hanns-Joachim Westphal, Renaud Capuçon oder Antonello Manacorda (heute einer der profiliertesten Dirigenten für Alte Musik und Komponisten der Klassik) ausmacht. Dazu kommen der Solobratscher Wolfram Christ, Emmanuel Pahud (Flöte), Albrecht Mayer (Oboe), Sabine Meyer (Klarinette). Anna Larsson (Alt) und Eteri Gvazava waren die Solistinnen, das baskische Orféon Donostiarra (Chor) der gewaltige Künder von Klopstocks religiös triumphaler Botschaft. Das Konzept des Finalsatzes soll Mahler 1894 während der Totenfeier für den Dirigenten Hans von Bülow in der Hamburger St. Michaelis-Kirche eingefallen sein.
Der Hans Swarowsky Schüler Claudio Abbado und Gustav Mahler. Das intime Verhältnis Abbados zum zerklüftet-sinnlich-spirituellen fin de siècle Kosmos des Spätromantikers Mahler beginnt schon sehr früh. Als Abbado in New York den ersten Preis beim Mitropoulos-Wettbewerb kassierte, durfte er 1963 eine fünfmonatige Assistentenzeit bei Leonard Bernstein absolvieren. Spätestens da wird die „Mahlermania“ des Dirigenten vitale Impulse erhalten haben. Kein Wunder, dass das Debütkonzert mit den Wiener Philharmonikern 1965 bei den Salzburger Festspielen Mahlers „Auferstehungssymphonie“ galt.
So schließt sich der Kreis. Als Abbado 2000 an Krebs erkrankte und 2003 in Luzern Mahlers „Auferstehungssymphonie“ dirigierte, war da wirklich der Gedanke der Auferstehung, des Obsiegens des Lebens, der Musik über den Tod, in mehrfacher Weise verwirklicht. Obwohl Abbado vom Typ her wesentlich anders als Bernstein an Mahler heranging, waren die Emotionen bei beiden Pultstars und im Publikum spätestens im Finale gleichermaßen am Kochen.
Wir erleben Claudio Abbado und dieses von spielerischer Brillanz und Impulsivität geprägte, einzigartig amikal interagierende Festival-Orchester, so als wäre es gestern gewesen (Bild- und Tonqualität sind stupend), in Aufführungen der Jahre 2003 (Mahler Symphonie Nr. 2) bis 2009 (Mahler Symphonien Nr. 1 und 4, Rückert Lieder mit der liebenswürdigen Magdalena Kožená). Die „Fünfte“ stammt aus dem Sommer 2004, 2005 war die „Siebte“, 2006 die „Sechste“ und 2007 die „Dritte“ dran.
Claudio Abbado zu beobachten, der Eleganz und federnden Präzision seiner Stabführung mit der rechten Hand und Ausdruck, Dynamik mit der linken in die Luft zaubernd, seiner die gesamte Bandbreite an Emotionen offen und tief empfunden ausleuchtender Mimik zu folgen, ist überwältigend. Mal ist er ein wacher Animator, der seinen Blick überall zugleich zu haben, der jeden Einsatz, jedes Detail, jedes gerade führende Instrument anzufeuern scheint, aber auch in vollkommener Ruhe das ‚Adagietto‘ in der „Fünften“ als meditatives Miteinander zelebriert, mal der federleicht aufgeweckte Bursche (Hören Sie das Rondo -Finale der „Fünften“) oder der um Existenzielles ringende Schmerzensmann. Die Konzentration aller im ‚Adagietto‘ überträgt sich körperlich auf das Publikum live und vor der „Leinwand“, bei manchen Orchestermusikern glänzen feuchte Augen. Und die (Wiener) Kammermusikfreunde freuen sich, 2004 im Orchester Valentin Erben (Cello) und Gerhard Schulz (Violine) vom Alban Berg Quartett im Orchester spielen zu sehen.
Die Orchestermusiker, ihre glühende Intensität, Reif neben Jung, Konzertmeister und Stimmführer von heute neben solchen von morgen, ihre Gemeinschaft des Augenblicks und die spürbar persönliche Verbundenheit zum „Chef“, all das machen diese Konzerte zu Solitären der Mahler-Aufführungshistorie. Auch wenn Abbado manche Tempi sehr breit nimmt (Beispiel: die „Dritte“), dann weiß man spätestens am Schluss, wie er den Bogen gespannt wissen wollte in den sechs Sätzen von der klanglich schroff aufschäumenden Urmaterie bis zum dem einem liebenden Gott apotheotisch gewidmeten Adagio, mit der das Werk ausklingt. Einfach hypnotisch, anders ist diese Wirkung nicht zu umschreiben. Der Gipfel der Erkenntnis führt über steinige Pfade, ihnen symphonisch zu folgen, könnte ja der Sinn der Mahler’schen Musik sein. Bei Abbado und Mahler fällt mir der auch von Florian Illies in seinem jüngsten Buch „Zauber der Stille“ über den deutschen Maler Caspar David Friedrich aufgegriffene Gedanken von Marcel Proust ein, sich stets ein Stückchen Himmel über dem Leben freizuhalten. Mag es auch noch so dornig kommen, könnte man hier hinzufügen.
Abbados „Mahler“ atmet luzide Weite und mediterranes Licht, ist formal bedachter und detailverliebter als Bernstein, aber in den gewaltigen Aufschwüngen und Höhepunkten nicht minder euphorisch. Abbado ist als Musiker vielleicht einem italienischen Spitzenkoch ähnlich, der aus oft simplen Zutaten ein himmlisches Ganzes montiert. Es wird sein Geheimnis bleiben, wie genau er das angestellt hat. Am Ende ist es neben einer genauen Vorstellung von Interpretation das Fluidum, Charisma, die Glaubwürdigkeit und die persönliche Energie, die sich vom Dirigenten auf das Orchester, den Chor und Solisten übertragen und für einzigartige Ergebnisse sorgen.
Es gibt sie, die wenigen Dirigenten, bei denen selbst die Spitzenorchester aus Wien und Berlin noch besser sind als üblich und über sich selbst hinauswachsen. Mir fallen Karajan, Kleiber oder Abbado ein, deren Kunst mir die intensivsten Musikerlebnisse überhaupt bescherte.
Müsste ich eine Opernaufnahme für die einsame Insel wählen, es wäre der Bayreuther Tristan mit Karajan, Mödl und Vinay, und sollte es Orchestermusik sein, die späten Abbado-Filmdokumente aus Luzern. Mahler war nicht der einzige Komponist, dessen Symphonien Abbado in Luzern dirigierte: Die Blu-ray Nummer eins startet etwa mit dem dritten Klavierkonzert von Prokofiev mit dem blutjungen Energiebündel Yuja Wang als Solistin, welches Abbado im August 2009 neben der ersten Symphonie von Mahler dirigierte. Erhältlich auf DVD ist auch das vierte Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven vom August 2004 mit Maurizio Pollini am Flügel gekoppelt mit der „Fünften Mahler“, die aber auch technisch optimierter auf der Blu-ray Box enthalten ist.
Der Film „Bitte nennt mich Claudio“ von Beatrix Conrad über Abbado anlässlich seines 10. Todestags im SRF ist nicht nur für das Schweizer Publikum verfügbar.
Wie wir soeben erfahren haben, ist der Film erfreulicherweise auch am kommenden Sonntag (28.1.24 im SWR um 8h40 zu sehen.
Dr. Ingobert Waltenberger