Ab 7. Dezember 2012 in den österreichischen Kinos
ANNA KARENINA
GB / 2012
Regie: Joe Wright, Drehbuch: Tom Stoppard
Mit: Keira Knightley, Jude Law, Aaron Johnson, Domhnall Gleeson, Matthew Macfadyen u.a.
Jemand will gezählt haben, dass Leo Tolstojs Roman „Anna Karenina“ bereits 16mal verfilmt wurde. Greta Garbo (1935), Vivien Leigh (1948), Jacqueline Bisset (1985) und zuletzt Sophie Marceau (1997) waren bislang in üppigen Dekorationen (Adel und Reichtum in der Welt der Romanows) wohl die prominentesten Interpretinnen dieser Geschichte einer verzehrenden Leidenschaft, die so tragisch endet.
Wenn nun 2012 der (erst 40jährige) britische Regisseur Joe Wright sich den alten Stoff neu hernimmt, waltet mittlerweile auch im Kino ein verändertes Bewusstsein – mit den großen Gefühlen im Kostümschinken aus der russischen Zarenzeit lässt man es heute nicht mehr bewenden. Verfremdung ist angesagt, man blickt auf Strukturen statt auf Dekor. Im Endeffekt ist es ein Film geworden, der keineswegs das bringt, was ein „normales“ Kinopublikum von „Anna Karenina“ erwartet…
Das hat auch damit zu tun, dass Wright – der sich bisher schon bei Romanverfilmungen von Jane Austen und Ian McEwan höchst gelobt bewährte – den großartigen Tom Stoppard als Drehbuchautor wählte. Dieser erzählt nun die berühmte Geschichte, indem er sie im wahrsten Sinn des Wortes „auf die Bühne“ stellt. Tatsächlich erlebt man das Geschick Annas wie auf dem Theater, das Portal der Bühne taucht immer wieder auf, große Szenen wie ein Ball verkommen zum kleinen Zitat, wie man sie eben realisieren würde, wenn man auf Bühnenbrettern weder Platz noch Geld hat, einen Ball „wie im Kino“ hinzustellen. Die Reduktion soll auf die Psychologie der Personen hin führen. Tatsächlich ist sie längere Zeit gewöhnungsbedürftig. Und dann wird jeder Kinobesucher individuell entscheiden, ob er diese Lösung einsichtig und reizvoll findet – oder ob er sich von diesem theatralischen Verfremdungseffekt gänzlich aus jeder Illusion gerissen und „fremd“ fühlt.
Wie in seinen vorigen erfolgreichen Literaturverfilmungen „Stolz und Vorurteil“ und „Abbitte“ wählte Wright Englands derzeit schönste und ausdrucksreichste Darstellerin als Heldin: Ob Keira Knightley quasi auf einer Bühne steht oder nicht, sie ist die hinreißende Dame der Gesellschaft schlechthin, die eine Aura von Unruhe und Unzufriedenheit verbreitet, die sie begreiflicherweise zum Objekt der Begierde für sexuell wache Männer macht. Da Tolstoj seiner Anna ein unruhevolles, nicht immer logisches Seelenleben verliehen hat, an dem auch Tom Stoppard nichts ändern kann (und wohl auch nicht wollte), muss sie sich mit der Unentschiedenheit der Figur herumschlagen, und sie tut es flimmernd faszinierend bis zum letalen Ende.
Tatsache ist, dass dem Autor die beiden Männer, zwischen denen sie steht, mindestens genau so interessant geraten sind, und die Darsteller tragen dem Rechnung: Für den Karenin von Jude Law ist klar, dass er als Minister und Mann der Öffentlichkeit jeden Skandal unterdrücken muss, statt zu reagieren, wie es ein betrogener und empörter Gatte instinktiv täte (bei Schnitzler hätte er bei einem Duell im Morgengrauen den Rivalen sofort tot geschossen). Law, einst Englands Charmeboy, hat sich herrlich in die egozentrischen Seelennöte des Mannes verkrampft, dessen Leben aussichtslos von seinem gesellschaftlichen Umfeld bestimmt wird.
Graf Wronsky ist ein Frauenjäger, und Aaron Johnson ist eine interessante Besetzung (wenn man bedenkt, dass man ihn eben erst als kiffenden Spät-Hippie in Oliver Stones „Savages“ gesehen hat!). Naiv-hübsch steht er anfangs da, dekadent und doch anziehend, aber die Rolle des routinierten Verführers wird erst dann wirklich interessant, wenn er bekommen hat, was er will – und bemerkt, dass diese „große Liebe“, die er sich aufgeladen hat, eine Last ist, die sein Leben zerstört. Sich hiervon so „rücksichtsvoll“ wie möglich, aber dennoch zu befreien – das ist die eigentliche Tragödie in Tolstojs Roman, das treibt Anna Karenina weit eher in den Tod als die gesellschaftliche Ächtung…
Die absolut interessanteste Figur des Romans ist und bleibt Levin, der Gutsbesitzer mit dem revolutionären Bruder und den fortschrittlichen Ideen, dessen Romanze mit Kitty nur ein Teil seines Schicksals ist: Domhnall Gleeson (Sohn des großen Brendan Gleeson, an dessen Seite er auch schon bei „Harry Potter“ dabei war) gibt diesem Außenseiter, der ideologisch so weit von der Welt der russischen Aristokratie entfernt ist, hochinteressantes Profil.
Als seine Kitty erlebt man Alicia Vikander, die in der Struensee-Neuverfilmung die unglückliche Königin Mathilde war und hier programmatisch einen noch jugendlichen Gegenpol zu Anna Karenina darstellt – ebenso wie Kelly Macdonald als unglückliche, von ihrem Mann betrogene Dolly eine spätere Entwicklung der Rolle „Ehefrau“ bedeutet: Schon faszinierend, wie Tolstoj die Variationen möglicher Frauenschicksale gezeichnet hat und wie der Film ihnen nachgeht.
Matthew Macfadyen, den man zuletzt als Musketier Athos gesehen hat, gibt als Annas Bruder ein Beispiel der Dekadenz der russischen Gesellschaft, wie Tolstoj sie hier nachzeichnet (und wofür im Film dann doch um einiges mehr Platz ist als bei Dramatisierungen des Romans für die Bühne). Es bedarf nur Olivia Williams als „strenger“ Fürstin Wronsky und Ruth Wilson als zügelloser Prinzessin Betty, um auch den weiblichen Teil der „guten“ Gesellschaft in seinen Extremen zu demonstrieren.
Kurz, Joe Wright hat glänzend besetzt und psychologisch ebenso glänzend inszeniert. Dennoch wird man den Eindruck nicht los, dass ein „normales“ Ambiente der Geschichte besser getan hätte als Tom Stoppards Verfremdung, die dauernd als solche auf sich aufmerksam macht und auf diese Art die Essenz des Geschehens in den Hintergrund treten lässt. Kino ist nicht Theater – so einfach ist das.
Renate Wagner