Zweimal HAMLET
Wahrscheinlich gibt es die „Oper der Opern“ nicht und auch nicht „den“ Komponisten schlechthin. Auf dem Theater ist es einfacher. „Der Dichter“ ist Shakespeare, und „das Stück“ der Weltliteratur ist „Hamlet“, dazu werden wohl kaum chancenreiche Alternativen zu nennen sein.
Nun, das große „William Shakespeare-Jahr“ steht bevor, 2016 jährt sich sein Todestag zum 400en Mal (nicht auszudenken, was sich da am Buchmarkt und in den Theatern tun wird). Aber für den im April 1564 in Stratford-upon-Avon Geborenen hat man heuer wenigstens den 450. Geburtstag zu bieten (was zeigt, wie jung er eigentlich gestorben ist – und welch ein Werk er in dieser Zeit hinterlassen hat).
Bevor nun die Sekundärliteratur wieder ihre Lieblingsfrage umkreisen wird (War Shakespeare Shakespeare oder ein anderer? die ziemlich ausgelutscht ist, aber, weil nicht definitiv zu beantworten, von ewigem Wert für Feuilleton und Wissenschaft), widmen sich zwei Verlage also „Hamlet“, dem Stück der Stücke, und das ist für Theaterfreunde wirklich doppelt ergiebig. Das Werk selbst in einem voluminösen Band rundum betrachtet, und in weit schmalerem Umfang seine Interpretationen auf dem Theater, wenn auch hier nur auf den deutschen Bühnen.
Hamlet Handbuch:
Stoffe, Aneignungen, Deutungen
Herausgegeben von Peter W. Marx
574 Seiten, Verlag: Metzler, 2014
Hamlet also. Ehrlich gesagt – im Grunde fällt einem auf Anhieb dazu erst einmal Shakespeare ein, und, wenn man ein Opernfreund ist, Ambroise Thomas. 564 Seiten lang wird man in einem der profunden Metzler-Handbücher eines Besseren belehrt – nämlich um wie viel mehr das Thema bietet. Es ist, wie immer bei diesen Werken, ein Kompendium von Einzelartikeln, die die meisten relevanten Fragen anschneiden – und auch solche, auf die man beim ersten Nachdenken vielleicht nicht käme („Hamlet“-Räume beispielsweise, was als Untersuchung, in welche Welt Theaterleute Hamlet stellen, theaterwissenschaftlich hoch interessant ist).
Die Stoffgeschichte zu Beginn, Shakespeare hat selten „erfunden“, oft historische Fakten und Personen verwendet, sich meist auf Überlieferung gestützt. Um 1200 hat der dänische Historiograph Saxo eine Nationalgeschichte verfasst, in der „Amlethus“ vorkommt. Mit vielen Details, die Shakespeare links liegen ließ, landet man dort bei der Vaterrache. Im England des 16. Jahrhunderts (wir sind schon in Shakespeares Zeitalter) war „Hamblet“ in anderen Überlieferungen bekannt. Als seine wichtigste Quelle gilt ein offenbar verloren gegangenes Drama. Ur-Hamlet, Hamlet-Ausgaben – man schreitet durch eine nachgerade spannende Entstehungsgeschichte, wobei berücksichtigt wird, dass das Stück bei Shakespeare einen relativ hohen Anteil an Musik hatte. Interessanterweise fallen die Artikel über die wichtigsten deutschen Übersetzungen (Schlegel bis Fried) eher mager aus.
Wer sich allein als Leser und Theaterbesucher (und nicht als gestaltender Interpret) lebenslang mit „Hamlet“ rauft, wird an den Deutungsproblemen großes Interesse haben, wobei es da nur wenige Figuren gibt, die in den Mittelpunkt rücken, nämlich „The Ghost“ (hier stößt man dann übrigens auf nicht wenige Artikel in englischer Sprache – nichts dagegen zu sagen, aber ein Übersetzer wäre wohl noch leistbar gewesen?), Fortinbras und Yorrick, während man sich sonst mit Grundsatzfragen (Komisches, Tragisches, Metaphysisches) auseinandersetzt.
Seltsamerweise kommen die großen Gestalten des Stücks – Claudius, Gertrud, Ophelia, Polonius… es gäbe eigentlich keine unwichtige! – jeweils für sich nicht vor, und Hamlet weniger als er selbst als die Deutungsarten (hier nennt man es „Lesarten“) des Stücks als Rachegeschichte, als Psychologie Hamlets, als Anti-Psychologie, Hamlet als Posthumanist usw. Da stößt man auf interessante Ansätze und Deutungen, wenn man es genau wissen will – und hat dennoch das dumpfe Gefühl, dass Figur und Stück nicht auszuschöpfen sind. Was vielleicht seine ultimative Genialität ausmacht.
Was Hamlet in verschiedenen Ländern der Erde, auch in Kontinenten bedeutet, ist ein universaler Denkansatz, seine Fortschreibungen erweisen sich als Legion – im deutschen Theater von Hauptmann bis Müller, aber auch in Lyrik und Roman. Hamlet im Film, in der bildenden Kunst, im Comic (!) und im Computerspiel (!!), im Krimi und in der Werbung („Sparen oder nicht sparen, ist das die Frage?“ textete die Deutsche Bank). Hamlet-Zitate werden nur auf Englisch abgehandelt, obwohl Schlegel manche unsterbliche Formulierung gefunden hat. Kurz, es ist ungeheuer, was es zu Hamlet alles zu wissen gibt – und selbst angesichts eines solchen Wälzers fiele einem individuell noch die eine oder andere Fragestellung ein.
Für das deutsche Theater war Hamlet übrigens immer von größter Bedeutung, was schon in diesem Buch ausführlich behandelt wird, von den ersten Bearbeitungen an, die man ihm im deutschen Theater angedeihen ließ (etwa im 18. Jahrhundert von Friedrich Ludwig Schröder). Hamlet auf der Bühne durchläuft die großen Interpretationen, mit starkem Gewicht auf jenen des englischsprachigen Raums, große Regisseure (Brook, Lepage), Umformungen in andere theatrale Medien wie Oper, Ballett, Musical, Kindertheater. Hamlet forever, nichts weniger als das.
Renate Wagner
Sein oder Nichtsein: Hamlet auf dem deutschen Theater
Von Winrich Meiszies, Claudia Blank u.a.
144 Seiten, Henschel Verlag, 2014
Seit 1937 kommen nahezu alljährlich die berühmtesten Hamlet-Darsteller der Welt auf Schloss Kronborg in Helsingor, also dem „Hamlet Schloss“, zusammen. Da waren sie schon – Olivier und Gründgens, Burton und Branagh, und sie haben erzählt, wie sie den Dänenprinzen sehen, was bekanntlich eine wundervolle „unendliche Geschichte“ ist.
Dieses Buch legt für das deutsche Theater nun einen langen Weg zurück, von 1626, als für die Wanderbühne von John Green die erste Hamlet-Aufführung im deutschen Sprachraum nachgewiesen werden kann, allerdings sprachen die Gäste am Hof von Dresden noch Englisch. Dann wurde Hamlet Besitz der deutschen Wandertruppen, dann des „deutschen Theaters“ schlechthin, und dieses Stück ist in diesem Lande immer besonders wichtig gewesen. Auch als politisches Manifest – „Deutschland ist Hamlet“ hieß es 1844, und das konnte immer erregen, bis zu Christoph Schlingensieg, der in Zürich ein „Medienspektakel“ wie „eine große Blase“ über seine Inszenierung stülpte.
Hamlet schafft es, immer in die jeweilige Zeit zu passen, und kein großer Regisseur, kein großer Schauspieler hat sich der Aktualität des an der Welt Verzweifelnden entzogen. Schrieb doch schon der Pole Jan Kott, einer der wichtigsten Shakespeare-Forscher überhaupt: „Wichtig ist nur, dass man durch den Shakespeare’schen Text hindurch zu den Erfahrungen unserer Zeit findet, zu unserer Unruhe und unserer Sensibilität.“
Für Gustaf Gründgens, dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist, war der Hamlet „die Rolle seines Lebens“, von Kainz bis Kortner, von Moissi bis Quadflieg kennt man die Namen, und dann beginnt für ältere Theaterbesucher schon die eigene, selbst erfahrene Vergangenheit mit Oskar Werner, Bruno Ganz, Klaus Maria Brandauer, Ulrich Mühe, Michael Maertens, August Diehl… Es ist nicht viel Platz, das ausführlich zu entfalten, aber man bekommt umrisshaft einen guten Eindruck des jeweils Gewollten und Gezeigten.
Auch weibliche Hamlets werden behandelt, wenn auch nicht so ausführlich, wie es dieser interessante Aspekt erwarten ließe, aber es ist ein schmales Buch. Für Theaterfreunde allerdings ideal, selbst wenn ein Personenregister fehlt, was für solche Werke wirklich unabdingbar ist!
Renate Wagner