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ZÜRICH: PELLÉAS ET MÉLISANDE – Beim Wort genommen. Premiere

09.05.2016 | Oper

Zürich: PELLEAS ET MELISANDE – 8.5.2016   

Beim Wort genommen  

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Jacques Imbrailo, Corinne Winters. Copyright: Toni Suter / T+T-Fotographie

Für das Meisterwerk Debussys hat Regisseur Dmitri Tcherniakov eine Deutung gefunden, die in ihrer Folgerichtigkeit absolut bezwingend ist. Schon das der Oper zugrunde liegende Schauspiel gleichen Titels von Maurice Maeterlinck deutet mehr an, als das es erklärt. Die Mitglieder einer seltsamen Familie, in die Mélisande als Aussenseiterin gerät, zerbrechen förmlich an dieser jungen Frau, die sich so gar nicht in ihr vermeintlich heiles Familienbild einpassen lässt. Bei Tcherniakov ist Mélisande eine Patientin des Psychotherapeuten Golaud, der sich fatalerweise in die schwer traumatisierte junge Frau verliebt und darüber selbst zerbricht. Ja, die ganze Familie, deren verwandtschaftliche Verhältnisse Maeterlinck sehr wohl im Unklaren lässt, erfährt an Mélisande ihre eigene Götterdämmerung. Denn Golaud ist nicht nur „le Prince Golaud“, sondern auch als Psychotherapeut der „Halbgott in Weiss“- sich unfehlbar wähnend -, dafür aber umso mehr den Anfeindungen, die seiner Psyche zusetzen,  ausgesetzt. Auch Pelléas, Halbruder Golauds, wird hier neu gesehen und zwar als „Produkt“ seiner Familie, nicht fähig, die wahre Liebe Mélisandes zu erkennen, und der sich durch die Abreise der Verantwortung entzieht. Mélisande aber ist und bleibt das Opfer, das durch die Sitzungen mit Golaud wohl in die Rückerinnerung ihrer traumatischen Erlebnisse mit symbolistischer Bildersprache geführt wird, aber nie zum Grund ihres Traumas gelangen kann. So ist auch etwas vom Fall Kampusch bei dieser Mélisande, die gefangen in der psychiatrischen Welt wie unter einer Glasglocke gefangen ist und ihr nicht entfliehen kann. Das geniale Bühnenbild des Regisseurs in der ebenso kongenialen Lichtgestaltung von Gleb Filshtinsky suggeriert diese sterile Welt der Psychoanalyse, bei der die Natur (Video: Tieni Burkhalter) nur durch ein grosses Fenster sichtbar wird, die von dieser Innen-Welt ausgeschlossen ist und daher aussen vor bleibt. So kann eine Heilung nicht stattfinden. Allein gelassen welkt Mélisande dahin und findet erst im Tode ihre Erlösung.

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Jacques Imbrailo, Corinne Winters. Copyright: Toni Suter / T+T-Fotographie

Dass dieses komplexe Konzept vom höchst ausgewogenen Ensemble so perfekt umgesetzt wird, dafür spricht nicht nur dessen schauspielerische Begabung, sondern auch die ungemein präzise Personenführung Tcherniakovs, der für jede Peron eine eigene Körpersprache (sehr gut auch die sprechenden Kostüme von Elena Zaytseva) gefunden hat und sie in diesem Ensemble auch realisiert sehen konnte. So ist Corinne Winters eine ideale Mélisande und diese traumatisierte junge Frau, der – so erahnen wir – in ihrer Kindheit wohl Schlimmstes angetan wurde. Immer wieder versucht sie, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, aber niemand in diesem „Psycho-Haushalt“ kann ihr helfen, weil Empathie in dieser klinischen Atmosphäre nicht existiert. Kyle Ketelsen als Golaud, dessen Rolle am konzisesten umschrieben ist, missbraucht seine Kompetenz als ihr „Seelenheiler“ und verstrickt sich dabei, bis er selbst zusammenbricht. Als Pelléas ist Jacques Imbrailo ganz der jüngere Halbbruder Golauds, anders als dieser ein weltfremder und wie dieser auch der Empathie gegenüber Mélisande nicht fähiger Partner. Yvonne Naef  als   Geneviève mag eine gute Krankenpflegerin ein, aber keine gute Mutter bzw. Grossmutter. Denn der kleine Yniold wird ebenso allein gelassen wie Mélisande und wird es durch die Prägung durch diese  zerrüttete Familie später einmal sehr schwer haben. Damien Göritz war ein überzeugender Jüngling heutiger Tage, der von seiner Umgebung alles lernt, auch das Schlechte. Hochmusikalisch, in der fast lässigen Gestaltung seiner Rolle, singt der junge Künstler präzis und stimmschön. Als Grossvater Arkel war Brindley Sherratt hier nicht der gutmütige Weihnachtsonkel, sondern ein verbitterter, egoistischer und lüsterner Greis. Unglaublich die Szene, wo er Mélisande zu küssen versucht und sie, ganze nahe in der Rückerinnerung ans traumatische Erlebnis, zu Eis erstarrt. Auch die Szene der Misshandlung der Mélisande durch Golaud ist an seelischer und physischer Grausamkeit kaum zu überbieten. Dass Mélisande dadurch eine Frühgeburt erfährt und daran stirbt, macht ihre Tragik nur noch deutlicher. Sehr berührten mich auch die beiden sog. Grotten-Szenen, die sich als Rückerinnerung in der Imagination Mélisandes abspielen und eindeutig den Einstieg in das Unterbewusste symbolisieren. So ist auch jede realistische Handlung in die Szenen der Rückerinnerung Mélisandes verlegt, die aber immer wieder gestört oder unterbrochen werden, sodass eine Heilung Mélisandes in immer weitere Fernen entschwindet.

Hier nun nochmals die fabelhaften Künstler: Corinne Winters verfügt in ihrer klaren Stimme über eine feine Palette der Einfärbungen, die ihre seelischen Befindlichkeiten widerspiegeln: einmal verträumt, zart, samtig, dann wieder sich entäussernd, fast schreiend, doch nie den Gesangston verlassend oder gar veristisch anmutend: einfach grossartig. Dann der Pelléas von Jacques Imbrailo, der mit seinem lyrischen, farbenreichen Bariton das merkwürdig schlafwandlerische Wesen des Pelléas gestaltet. Dagegen Kyle Ketelsen, der mit männlich markantem Bariton den „Gewaltmenschen“ Golaud durch alle seine seelischen Verwerfungen hindurch glaubhaft werden lasst. Yvonne Naef, schon durch ihre Persönlichkeit wirkend, versieht die Geneviève mit elegantem Mezzo, der das französische Idiom, wie überhaupt bei allen Sängern, klar und authentisch über die Lippen kommt. Als Arkel ist Brindley Sherratt hervorragend in der Darstellung des verbitterten Grossvaters und singt manchmal mit gar zu gesundem Bass. Da hätte ein Mehr an Finesse auch gepasst. In dieser Interpretation war der Schäfer (Reinhard Mayr) zum Vater von Pelléas mutiert, was der Regie die Gelegenheit gab, ihn  hier nun als psychisch schwer traumatisierten Mann erscheinen zu lassen, an dem der kleine Yniold, seinen Vater Golaud imitierend, eine grausame Psychotherapie vornimmt. Als Arzt war Charles Dekeyser, etwas steif, gut in dieses Konzept integriert.

Und dann die fabelhaft aufspielende Philharmonia, die unter Alain Altinoglu weniger das Duftige des sog. Debussy-Klanges betonte, als vielmehr die Farben der genialen Instrumentierung aufleuchten liess und die Tempi so wählte, dass Bühne und Orchester nie auseinanderklafften. Der Zusatzchor und die SoprAlti (Einstudierung: Jürg Hämmerli) sang die wenigen Takte bei der geheimnisvollen Abfahrt des Schiffes, das in den Untergang segeln wird.

Alles in allem eine absolut in sich stimmige Produktion. Ob dies Leuten gefällt, die lieber das „Märchen“ auf der Bühne haben erleben wollen, ist hier nicht der Gegenstand. Es zählt allein der faszinierende Theaterabend. Bravo dem Opernhaus und allen Mitwirkenden!

John H. Mueller           

 

 

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