Franz Lehár: Die Lustige Witwe • Opernhaus Zürich • Vorstellung: 07.03.2024
(9. Vorstellung • Premiere am 11.02.2024)
«Eine frische, gefällige Melodik, die durch pikante Instrumentation wirksam unterstützt wird»
Die Schweiz ist auch ein Operettenland. Von Sirnach über Hombrechtikon, Bremgarten, Möriken, Rheinfelden, Bümpliz und Entlebuch bis Sursee und Arth werden (in teils über 100jähriger Tradition) alljährlich (oder jedes zweite Jahr) Operetten von halbprofessionellen Vereinigungen aufgeführt (https://www.musiktheatervereinigung.ch/spielplaene.html).
Foto © Monika Rittershaus
Sporadisch tauchen Operetten auch in den Spielplänen der professionellen Bühnen auf. Das Operettenerbe des Stadttheater Zürich, des heutigen Opernhaus Zürich, gilt es allerdings noch wiederzuentdecken. Als in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts die Situation für jüdische Komponisten immer schwieriger wurde, wurde Zürich zu einem Zentrum der Operette. Stellvertretend sei hier der Komponist Joseph Beer genannt, dem empfohlen wurde, von Anfang an nach Zürich zu gehen, da seine Tantiemen dort sicherer seien.
Das Interesse bestand aber auch schon vorher. «Die Lustige Witwe», die neueste Operette des namentlich durch seinen «Rastelbinder» bekannt gewordenen Wiener Komponisten und Kapellmeisters Franz Lehar, errang sich bei ihrer Premiere im Theater an der Wien einen durchschlagenden Erfolg» berichtet die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) in ihrem zweiten Abendblatt vom 12. Januar 1906 über die Uraufführung von Lehárs Meisterwerk. Ein knappes Jahr nach der Uraufführung war bereits die Zürcher Erstaufführung angesetzt. In 2. Abendblatt der NZZ vom 30. November 1906 kündigt der Schweizer Pianist, Komponist und Musikkritiker Hans Jelmoli das Kennenlernen mit einer «gar interessanten, weitgereisten Dame» an. Lehars Werk, so Jelmoli, lebe von den «Schlagern». «Manchmal, wie bei dem Marsch von den Weibern, zeigt sich der Militärkapellmeister etwas aufdringlich, aber der Mehrzahl der Nummern eignet eine frische, gefällige Melodik, die durch pikante Instrumentation wirksam unterstützt wird». Zu Danilos Solo «Da geh‘ ich zu Maxim» weiss er zu berichten: «Bei der 151. Aufführung summte beinahe das ganze Parkett mit». «Wir wünschen dem hübschen Werk Lehárs, das an unserer Bühne sich der sorgfältigsten Vorbereitung erfreuen durfte, eine warme Aufnahme».
Beim Kritiker der NZZ fand die Zürcher Erstaufführung keine warme Aufnahme: «Wir gönnen jedem sein Vergnügen, und es sollte uns herzlich freuen, wenn es die „Lustige Witwe“ Lehars hier zu einem nachhaltigen Erfolg brächte. Aber uns hat sie fürchterlich gelangweilt. Und es gibt nichts Schlimmeres als eine langweilige Operette. Dass der Text, dessen „fremde“ Grundidee nicht übel, wenn auch für drei Akte recht dünn ist, mit Situationen und Witzen vollgestopft ist, die noch mehr Geist als Anstand vermissen lassen, daran ist man ja gewöhnt und das alles lässt sich noch ertragen, wenn eine graziöse feine Musik dieser Phantasiewelt den poetischen Duft gibt, der eigentlich das Künstlerische ausmacht. Aber leider ist die Komposition fast durchweg von einer so gemeinen Trivialität, daß die Handlung womöglich noch schlimmer wird, sobald gesungen wird. Bei andern Operetten ärgert man sich, wenn der Stumpfsinn des Dialoges, den man ja gleichmütig hinzunehmen gelernt hat, allzuselten durch die Musik unterbrochen wird; in der „Lustigen Witwe“ sind nach den Gesangsstücken sogar die grässlichsten Kalauer eine Erquickung. Es fällt dem Komponisten zum Unterschied von seinen meisten Kollegen wohl etwas ein, aber was. Dazu die Dürftigkeit in der Anlage und die Liederlichkeit in der Ausführung der einzelnen Stücke. Andere Leute haben vielleicht einen Sinn für diese Art Musik; wir flüchteten nach dem zweiten Akt. Die gut einstudierte Aufführung hätte verdient, einem bessern Stück zugute zu kommen» (Drittes Morgenblatt der NZZ vom 4. Dezember 1906). Die Berichte über die Aufführungen der Lustigen Witwe am Gärtnerplatz-Theater München lesen sich ähnlich (NZZ: 2. Abendblatt vom 18. Juni 1907 und 3. Morgenblatt 7. Oktober 1907): «wo seit s Monaten nahezu unumschränkt die „Lustige Witwe“ herrscht (die demnächst stattfindende 200. Aufführung ist an dem Tage, an dem die Vormerkungen eröffnet wurden, viermal überzeichnet worden!)» und «Seit bald einem Jahre nun beherrscht, ja tyrannisiert die «Lustige Witwe» alles in ihrem Umkreis». Trotz negativer Kritik war die Lustige Witwe auch in Zürich ausserordentlich erfolgreich: «In der Abendvorstellung wird «Die lustige Witwe» eine Art von Jubiläum feiern können, denn wenn in andern Städten die runden Ziffern erst bei 50 oder 100 anfangen, so ist es für unsere Verhältnisse doch ein seltenes Ereignis, dass ein Stück in einer Saison 12 Aufführungen erlebt und die Sonntagsvorstellung der «Lustigen Witwe» wird in der Tat das Dutzend vollmachen» (NZZ, 3. Morgenblatt vom 9. März 1907). Das Erste Morgenblatt der NZZ vom 30. Oktober 1907 spricht dann schon von einem Meisterwerk: «Am 27. Oktober 1907 war der grosse Tag, an dem das dritte Halbdutzend der Aufführungen von Lehárs unsterblichem Meisterwerk «Die lustige Witwe» an unserm allem Guten und Schönen geweihten Stadttheater voll wurde».
Die Stärke der Inszenierung von Barrie Kosky liegt darin, dass er Lehars Meisterwerk dem 21. Jahrhundert zugänglich macht. Mit der «minimalistischen» Szene (Bühnenbild und Lichtgestaltung: Klaus Grünberg) und den prägnanten Kostümen (Gianluca Falaschi) geht er dem kleinbürgerlichen «Heile Welt-Bedürfnis» der Nachkriegszeit aus dem Weg und ermöglicht dem Zuschauer sein eigenes Kopfkino zu starten.
Mit Elissa Huber als Hanna Glawari ist die Rolle nun als solche erkennbar. Das Studium in Gesang, Schauspiel und Tanz an der Bayerischen Theaterakademie August Everding in München und die Erfahrung im Musical gereicht ihrer Interpretation ganz klar zum Höhepunkt: ganz im Sinne von Koskys Konzept kann sie sich wie in einer Revue ins Kollektiv zurückziehen oder als Solistin hervortreten. Das Vilja-Lied (Lied vom Waldmägdelein), mit wunderbar voller, runder Stimme vorgetragen, wird zu einem Höhepunkt des Abends. Mit ihren sängerischen und schauspielerischen Fähigkeiten ist sie für Michael Volle als Graf Danilo Danilowitsch eine würdige Partnerin. Volle blüht auf: Sein Danilo wirkt nun viel stimmiger. So wie die beiden sich gehalten haben, wird nun ihrer jugendliche Affäre einiges plausibler. Martin Winkler (Baron Mirko Zeta ) kommt an diesem Abend erst nach einigen Anlaufschwierigkeiten in Fahrt. Dan aber sitzt die Stimme und kann wieder frei fliessen. Katharina Konradi gibt eine stimmschöne, ausgesprochen selbstbewusste Valencienne. Sie ist die Strategin «ihrer Männer». «Der Zauber der stillen Häuslichkeit», das Duett mit Andrew Owens der an diesem Abend als Camille de Rosillon tadellos bei Stimme ist, wird zu einem Höhepunkt. Barbara Grimm gibt zuverlässig den Njegus. Omer Kobiljak als Vicomte Cascada, Nathan Haller als Raoul de Saint‐Brioche, Valeriy Murga als Bogdanowitsch, Maria Stella Maurizi als Sylviane, Chao Deng als Kromow, Ann‐Kathrin Niemczyk als Olga, Andrew Moore als Pritschitsch und Liliana Nikiteanu als Praškowia ergänzen das vom Publikum begeistert gefeierte Ensemble.
Patrick Hahn (Musikalische Leitung) hat das Geschehen fest im Griff und begeistert mit seinem überzeugend austarierten Dirigat. Die Philharmonia Zürich folgt im hochkonzentriert und mit grossartigem, federndem Klang. Besonders erwähnenswert sind die ätherisch feinen, zart bis zum Zerbrechlichen Streicher. Ernst Raffelsberger hat den Chor der Oper Zürich bestens vorbereitet. Die Mitglieder des Chores geniessen ihren Auftritt sichtlich.
Eine absolut werkgerechte Inszenierung.
Weitere Aufführungen: So. 10. März 2024, 20.00; Di. 12. März 2024, 19.30; Do. 14. März 2024, 19.00.
07.03.2024, Jan Krobot/Zürich