Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

ZÜRICH/ Oper: SIMON BOCCANEGRA / Stream

12.12.2020 | Oper international

 

Giuseppe Verdi: Simon Boccanegra - Programm in voller Länge | ARTE Concert

Perfekter WOZZECK sucht SIMONE zu schultern

1 VORBEMERKUNGEN

  1. a) Die schwächste aller Verdi-Opern, kein einziges Arien-Juwel, einen Gassenhauer sucht man vergeblich … zugegeben, muss nicht sein. Kein Wunder dass das Werk nach der erfolgreichen Trias Rigoletto/Trovatore/La Traviata bei seiner Uraufführung durchfiel. 
  2. b) Immerhin kann das Finale Akt 1 in der neuen Fassung als Ensemble den Ansprüchen eines Verdi-Fan genügen.
  3. c) Im Eugen Onegin, auch einem Werk mit Zeitsprung, jedoch am Ende der lyrischen Szenen, führt das dramaturgisch zum äusserst geschickt gemachten Kulminationspunkt der letzten zwei Bilder im Hause des Fürsten Gremin.
  4. d) Im Boccanegra hingegen wird im Vorspiel eine wenig glaubwürdige, herbei gezwungene Geschichte erzählt um in der Oper das Politdrama mit einer Liebesgeschichte und der Vater-Tochter-Beziehung verzahnen zu können. Warum der zum Dogen überredete Titelheld dieses Amt dann gegen seinen ursprünglichen Willen 25 Jahre lang ausübt, wird durch nichts erklärt und macht den Handlungsfaden unglaubwürdig. Und Letzterer ist noch verworrener verglichen mit dem des Trovatore.
  5. e) Wenn immer ein Intendant dieses Werk ansetzt, muss der Hausdramaturg das Werk schönreden, was es doch für verborgene Schätze beinhalte, es werde weit unter Wert gehandelt und Anderes mehr. Vergessen Sie das bitte ab sofort, das ist nur Public Relation um den Ticketverkauf anzukurbeln.

2 MUSIK

Die Überarbeitung ein Vierteljahrhundert nach der Erstfassung, zeitlich nach der erfolgreichen Aida entstanden, präsentiert musikalisch ein durchkomponiertes, fast ausschliesslich düsteres Werk, mit Ausnahme Amelias Auftrittsarie, dem einzigen hell-reizvollen Fleck, was ich dankbar anerkenne. Dann besticht das erwähnte Finale Akt 1, was danach in Akt 2 und 3 folgt, ist gemessen am Verdi-Standard nur zweitklassig und weder mit Aida noch Otello konkurrenzfähig; die Handlung kommt nur noch zäh voran und musikalisch dominiert der rezitativische Gesang dermassen, dass der Fluss verloren geht. Zudem fehlen in den beiden Akten musikalische Eingebungen die den Zuhörer mitreissen können. So wie der Titelheld vergiftet langsam stirbt, versandet die Musik diminuendo-morendo.

Fabio Luisi war der Partitur ein guter Anwalt, bemühte sich eindringlich das Werk mit Gewürz schmackhaft zu machen, Orchester und Chor (Einstudierung: Janko Kastelic) folgten ihm mit vollem Einsatz aus dem ein Kilometer entfernten Probesaal am Kreuzplatz. Aber mehr als was in der Partitur steht, konnte er nicht vermitteln.

3 SÄNGER

Christian Gerhaher, der jede Partie bis ins hinterste Détail mit scharfem Intellekt studiert, präsentiert dem Zuschauer eine unübliche Seite des Titelhelden, nämlich die eines an sich selbst zweifelnden, zerrissenen, schuldigen Vaters. Das geht hingegen so weit – ob von ihm oder der Regie so gewollt bleibt offen – dass man sich zu Recht fragt, wo der über Autorität verfügende Korsar geblieben ist … die Führungsqualität dieses Menschen bleibt unterbelichtet, auf der Strecke. Darstellerisch bietet Gerhaher eine hoch differenzierte Studie eines scheuen, in sich gekehrten Zweiflers. Die meist schräge Kopfhaltung, die Körpersprache insgesamt und nie ein strammer Schritt in irgendeine Richtung nötigt dem Betrachter Bewunderung ab.

Aber stimmlich wird der Zuhörer leider nicht eben glücklich: Gerhahers lyrischer Bariton hat zu wenig Breite und Fundament um als Verdi-Bariton zu reüssieren. Wo dramatisches Volumen gefordert wäre, kommt Deklamation zum Einsatz.

Dieses Manko beim Titelhelden wird durch Nicholas Brownlees vollmundig-strömenden Baritons des Paolo evident. Er überzeugt eben stimmlich wie darstellerisch als Intrigant, eine der zwei sängerischen Spitzenleistungen im Aufgebot der Sängerriege.

Der zweite sängerische Lorbeer geht an die US-Amerikanerin Jennifer Rowley, die verständlicherweise die schwierige Auftrittsarie der Amelia mit Respekt angeht (spontan denke ich an Radames ebenso diffizile „celeste Aida“), aber sofort mit piano und forte gesetztem Spitzenton auf sich aufmerksam macht und danach zu grosser Form aufläuft.

Otar Jorjikia als Adorno hatte ich als Einspringer für Meli im Verdi Requiem in bester Erinnerung: sein Stimmmaterial hat Qualität, das belegen seine Auftritte an grossen russischen Bühnen und anderswo. Was war nur los nach seinem Auftritt durchs Fenster: statt glühende Augen auf seine Auserwählte zu werfen suchte sein Blick immer wieder einen Monitor. Musikalische Unsicherheit vermochte ich nicht auszumachen, war es Premièrennervosität, hat ihn Homokis Regie, natürlich der Pandemie geschuldet, nicht überzeugt oder „konnte“ er nicht mit Amelia … grosses Fragezeichen, diese Szene konnte gar nicht überzeugen, denn Adorno stand wie ein Holzpflock herum, dass er Amelia begehrt, war nicht auszumachen. Später wurde er zwar etwas freier, aber der Monitor blieb sein bester Freund.

Bleibt von den Protagonisten Christof Fischesser als Fiesco zu würdigen: gesanglich gut mit bekannt schönem Material wurde er als Gegner von Boccanegra nie richtig erkennbar, da seine Kostümierung ihn als Patrizier, pardon durch die Zeitverlegung als Bürgerlicher, kaum von den Revoluzzern unterschied; das ist der Ausstattung von Christian Schmidt geschuldet. In diesem Zusammenhang kritisiere ich auch das einige der Protagonisten nach 25 Jahren nicht alterten, sondern nur durch minim andere Frisuren und andere Kleidung, wenn überhaupt, ein anderes Aussehen bekamen. Da alle Herren-Kostüme dunkel waren und auch die Beleuchtung eher selten mal hell war, wurde es nochmals schwieriger der Handlung zu folgen.

4 REGIE

Hausherr Andreas Homoki hat selbst inszeniert: ein schwieriges Werk unter Einhaltung der Pandemie-Vorschriften überzeugend zu interpretieren, kommt der Quadratur des Kreises gleich!

Dass aus diesem Grund die Drehbühne sich gefühlt fast dauernd drehte – weil sich niemand zu nahe kommen durfte –  eine Umarmung, eine denkbare Rauferei und vieles mehr nicht drin lag. Durch die Rotation, die Türen und Durchgänge konnten Gänge der dramatis personae legitimiert werden … und damit Steh- oder Rampensingerei vermieden werden. Unter den gegebenen Umständen eine gute Arbeit. Auf die Länge ermüdete das Auge allerdings durch die Dreherei und die Inszenierung bekam eine unstete Note.

5 DANK

Dank an das Opernhaus Zürich, das trotz wiederholter Schliessung des Hauses eine geplante Neuinszenierung kostenlos per Stream anbietet, chapeau !

6 NACHBEMERKUNGEN

6.1. Dass die Blonde in Grün bei Arte wie üblich kübelweise Himbeersirup über Dirigent, Regisseur, Sänger, Werk, Opernhaus und Stadt giesst, dem Zuschauer/-hörer mit Penetranz zu vermitteln versucht er habe soeben das ultimativ bedeutendste Werk in der überzeugendsten Interpretation erlebt, reizt zum Widerspruch.

6.2. Wann dürfen wir mal wieder einen bartlosen Opernsänger auf der Bühne sehen?

Alex Eisinger

 

Diese Seite drucken