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WÜRZBURG: THE COLOUR von Gerhard Stäbler. Uraufführung

25.04.2015 | Oper

WÜRZBURG / THE COLOUR von Gerhard Stäbler – Uraufführung
am 24.4. (Werner Häußner)

 Das Grauen hat keinen Namen. Keine Gestalt. Es zeigt sich nicht. Aber es ist präsent, durchdringt und erfüllt alles. Und löscht am Ende alles Lebendige aus. Sichtbar wird es indirekt: als Farbspektrum in einer Wolke von Dampf. Eine uneigentliche Existenz, jenseits dessen, was der Mensch mit seinen Sinnen als seiend erkennen, mit seiner Vorstellungskraft oder seinen intellektuellen Gaben als existent anerkennen könnte.

Ein solches Phänomen zum Thema eines Musiktheaters zu machen, ist wagemutig. Hermann Schneider, Intendant des Mainfrankentheaters Würzburg und ab 2016 Chef des Landestheaters Linz, hat es gemeinsam mit dem Düsseldorfer Komponisten Gerhard Stäbler angepackt. Howard Philipps Lovecrafts Novelle „The Colour out of Space“ („Die Farbe aus dem All“) ist die Vorlage, die Schneider in einem eigenen Libretto verarbeitet hat. Das dreistündige Werk wurde nun am Würzburger Mainfrankentheater in einer fantasievollen bildnerischen Einrichtung uraufgeführt.

Szenisch „erzählen“ ließe sich diese Story nur schwer. Lovecraft schon setzt die unheimlichen Vorgänge in einen distanzierten Blick, indem er einen Erzähler – einen Landvermesser – einführt, der wiederum den Bericht eines alten Zeitzeugen über die mehr als vier Jahrzehnte zurückliegenden Ereignisse wiedergibt. Schneider macht sich diese Distanz zu eigen: Textprojektionen in den Raum ersetzen den Erzähler, die Bühnenfiguren sind nicht im dramatischen Sinne wie Schauspieler geführt: Die Bauernfamilie, auf deren Farmgelände ein seltsamer Meteor einschlägt, sitzt zwar um einen Tisch unter einer trüben Lampe, „liest“ aber aus Klavierauszügen vor. Auch die Wissenschaftler, die den Einschlag untersuchen, haben die Noten in den Händen. Das ist kein Notbehelf für eine ausgeformte Inszenierung, sondern ein wesentliches Stilelement.

Zusätzliche Figuren erweitern Lovecrafts Vorlage: Ein „Tramp“ erzählt an Nahtstellen des Stücks immer wieder das Gleiche; eine „Putzfrau“ verkündet vom Rand der Szene Prophezeiungen. Schneider will dem Stück damit Tiefe und Beziehungsreichtum geben; so recht gelingen will das jedoch nicht: Die Sänger sind zu schwer verständlich, Übertitel oder ein Libretto gibt es nicht. Die Intermezzi werden als retardierendes Element empfunden, obwohl Stäbler die beiden Figuren mit außergewöhnlich einfallsreicher und schöner Musik trägt.

Die Raumgestaltung von Falko Herold ist ein Glücksfall. Sie setzt dem Erzählen die Wirkung fesselnder Bilder entgegen. Die Projektionen, Videos und Lichteffekte (Thomas Ratzinger) evozieren keine Schauplätze. Einzige konkrete Raumelemente sind die gespenstische Silhouette des Farmhauses und der aufgerissene Boden, der Krater des Einschlags. Herold bildet – mit dem Einsatz von Gaze-Courtinen – unterschiedlich gestaffelte Räume, in die er ein kosmisches Meer kreisender oder fallender Lichtflecken projiziert: Sie lassen an Zeitraffer-Aufnahmen gewaltiger kosmischer Bewegungen denken, an das ewige Kreisen der Sterne, oder aber auch an ins Monströse vergrößerte Bewegungen kleinster Teile des Mikrokosmos.

Aus dem Krater steigt Dampf auf, in dem sich, blass und kränklich wirkend, die Farben des Regenbogens abzeichnen. Eine Verdeutlichung eines zentralen Elements von Lovecrafts Story. Dort zeigt sich der abgründig zerstörerische Befall alles Lebendigen zunächst in einer sinistren Intensivierung der Farben und Formen, bevor sie in wesenlosem Grau einem Prozess des Verfalls zu gestaltlosem Staub zum Opfer fallen. Der Kern des abgestürzten Etwas dagegen hat eine Farbe, die sich nicht erfassen lässt – eigentlich ein physikalisches Unding, das aber präzis benennt, um was es geht: Das „Ding“ aus den Tiefen des Alls gehört nicht zur bekannten Welt, es ist wie eine metaphysische Tatsache nur in Analogien beschreibbar.

Genau das versucht Herold visuell zu verdeutlichen. Und es gelingen ihm schöne, beklemmende Bilder. Die Pflanzen und Früchte etwa, die zunächst auf den Feldern prächtiger und üppiger als je zuvor wachsen, lässt er als riesige Blumen in kränkelnd kreidigen Farben sprießen. Und die Bäume, die rauschen, obwohl kein Wind geht, recken sich als blutrotes Gespinst in die Schwärze. An der entscheidenden Stelle, die den todbringenden Charakter des Dings aus dem All endgültig offenbart, zitiert Herold das unheimliche Haus hinter Bates Motel aus Alfred Hitchcocks „Psycho“.

Dieser Moment scheint nicht konsequent. Denn bei Lovecraft geht es nicht um das abgründig Böse, wie es sich in der Psyche eines Menschen äußert. Es geht streng genommen überhaupt nicht um etwas „Böses“, sondern um etwas, das jeder moralischen Bewertung entzogen ist: ein kosmisches Geschehen, das „neben“ den Menschen abläuft. Bei Lovecraft noch ist das, was der Meteor freisetzt, so etwas wie eine Vampir-Kraft, die Leben aufsaugt. Hermann Schneider hat dieses letzte Indiz für eine böse Kraft vermieden. In „The Colour“ als Musiktheater wirkt die Katastrophe absichtslos zerstörerisch.

Man möchte mit Stanislaw Lem im Hinterkopf sogar fragen, ob „the colour“ überhaupt merkt, dass es etwas Lebendiges vernichtet. Die Würzburger Produktion, die das epische Element betont und zeitweise den Charakter einer Installation annimmt, betont diese Gleichgültigkeit und damit eine Dimension des Grauens, die auch bei Lovecraft mitschwingt: Der Kosmos, bar jeden Schöpfers, bar jeden Gottes, ist dem Schicksal der Menschen gegenüber völlig gleichgültig. Der Mensch ist kein wesentlicher Teil und schon gar nicht die Krone der Schöpfung, er ist schlichtweg irrelevant. Für ein denkendes Individuum ein schier unerträglicher Gedanke. Und ein Konzept, das offenbart, wie sehr wir Menschen darauf angewiesen sind, das, was geschieht, aus unserer Perspektive zu beurteilen.

Das Ende legt solche Überlegungen nahe: Schneider hat das Stück in vier Teile gegliedert, den vier Elementen entsprechend – oder auch der symbolischen Zahl Vier, die für die gesamte Welt steht. Das letzte Element – stets als Titel eingeblendet wie bei einem alten Film – ist das Wasser, der „Quell des Lebens“. Es spielt bei Lovecraft keine geringe symbolische Rolle: Das Wasser der Quelle wird schlecht und leitet das Sterben der Farmersfamilie ein. Am Brunnen – an dem Jesus der Sünderin vergibt und so neues Leben ermöglicht – fallen die Söhne des Farmers in Irrsinn rätselhaften Kräften zum Opfer. Im Brunnen haust das aus dem All gekommene Verderben. Falko Herold projiziert zum Schluss Videos schwebender Quallen in ruhigem, blauen Wasser: Das fremde, neue Leben, in das sich „the colour“ entwickelt? Das die Menschen verderben lässt, um sich zu neuem, dynamischem Dasein zu entfalten? Ein Gedanke, der über Lovecraft hinausführt und dem Geschehen einen Zug in eine pessimistische Schöpfungsgeschichte gibt.

Gerhard Stäbler stand vor der Herausforderung, für das „ganz Andere“ eine Musik zu erfinden, die sich notwendig in einer Form ereignen muss, aber das Unerhörte, Unfassbare ausdrücken soll. Im Programmheft beschreibt Stäbler, er umkreise Themenkomplexe quasi wie die Katze den heißen Brei. Zu Beginn krachen scharf dissonante Tuttischläge ins Ohr des Hörers – der Einschlag des Weltallbrockens geschieht akustisch, aber er betrifft nicht so sehr die Erdoberfläche, sondern vielmehr das Bewusstsein ihrer Bewohner.

 Die Klangballung kehrt wieder, wenn der Prozess fortschreitet, der die Menschen langsam irrsinnig werden lässt. Eine poröse, instabile musikalische Struktur, evolutiv und doch klanglich kreisend, die Bekanntes allmählich verändert und in heisere, kratzig schwebende Akkorde und Cluster münden lässt, nicht selten auch ins Geräuschhafte degeneriert. Das Orchester spielt teils im Graben, teils hinter der Szene – dort regieren vor allem Rasseln, Ratschen und Metallophonisches. Wenn Stäbler eine Posaune aufklingen lässt, erinnert sie natürlich an das Jüngsten Gericht: Beziehungsreiche Musik, die bis hin zur Schumann-Verarbeitung reicht. Stäbler schafft Klangräume, die auch der Musik der sechziger und siebziger Jahre schon bekannt waren; er ist kein Neuerer um jeden Preis, aber ein Schöpfer expressiver Momente und dabei – nach allem, was zu hören ist – kein „Atmosphäre“-Musiker: Was er an Ausdruck erzielt, ist formal höchst bewusst fundiert.

Diese Expressivität in Klang zu wandeln, obliegt dem Philharmonischen Orchester Würzburg, bereichert mit einigen markanten Farben wie der eines Solo-Akkordeons, und seinem GMD Enrico Calesso. Die Aufgabe wird mit einer selten erlebten Präzision und mit fabelhaftem Klanggespür bewältigt. Calesso wirkt wie ein Kraftzentrum, das die Konzentration und Geistesgegenwart seiner Musiker nährt. Die Balance in den fragilen Clustergebilden ist genau ausgehört; die markerschütternden Tutti des Beginns, die grellen Einschläge, die einsamen Einwürfe solistisch eingesetzter Instrumente überzeugen voll und ganz. Eine glanzvolle Aufführung: Provinz ist da, wo man solches nicht zur Kenntnis nimmt.

Die Sänger fordert Stäblers Musik nicht unbedingt durch Ausloten der Extreme ihres Stimmumfangs oder durch möglichst abgedrehte Forderungen an die Tonbildung. So kann Daniel Fiolka in seinen Soli in psalmodierendem Ton die wachsende Verzweiflung und den Zugriff des Irrsinns auf den Farmer Nahum Gardner ausdrucksvoll darstellen. Sonja Koppelhuber, Silke Evers und Joshua Whitener können in den Rollen der Familienmitglieder Stimme zeigen – und tun dies technisch präsent und klanglich frei. Dass Brian Boyce als Tramp und „Ich“-Stimme nicht verständlich genug artikuliert ist ein Manko, das auch Karen Leiber (Frau) und Anneka Ulmer (Putzfrau) betrifft. Schöne Vokale machen Worte leider nicht verständlich.

So wird der Abend mit seinen drei Stunden trotz der magischen Bilder lang, zu lang. Um die Aufmerksamkeit zu fesseln, verändert sich die Musik zu wenig, entlassen retardierende Momente das Gehör aus seiner Aufmerksamkeit. Mit Übertiteln wäre zu helfen gewesen – noch mehr jedoch mit einer strikten Zeit-Disziplin. Vielleicht sollten sich die Autoren mit Blick auf eine sehr zu wünschende zweite und vollszenische Aufführung das Stück noch einmal vornehmen: Es würde das Musiktheater der Gegenwart um eine reizvolle und gar nicht verderbliche Farbe bereichern.

Werner Häußner

 

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