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WÜRZBURG: SUNSET BOULEVARD (Webber)

03.02.2014 | KRITIKEN, Oper

WÜRZBURG: SUNSET BOULEVARD (Webber) am 2.2.2014 (Werner Häußner)

 Salome begehrt Jochanaan. Weil er ihr Begehren nicht stillt, lässt sie ihn köpfen. Norma Desmond will Joe Gillis besitzen. Weil er sich entzieht, erschießt sie ihn. Kein Wunder, dass die Filmdiva in „Sunset Boulevard“ ausgerechnet als Salome ihr Film-Comeback plant – mit einem selbst geschriebenen Drehbuch. Die Welt der Norma Desmond ist hermetisch, künstlich, eine Welt der Illusion: Träume aus Licht habe sie der Welt geschenkt, sagt sie im Stück. „Dies hier ist mein Leben“; bekennt sie beim Besuch des Filmstudios. Richtig: Für diese Frau gibt es kein Leben nach dem Film.

Andrew Lloyd Webbers „Sunset Boulevard“ verwandelte den berühmten Film Billy Wilders – mit der unvergleichlichen Gloria Swanson in der Hauptrolle – in ein Musical, das derzeit am Mainfrankentheater Würzburg für ein stets nahezu ausverkauftes Haus sorgt. Das Musical von 1993 ist nicht das erfolgreichste aus Webbers Werkstatt, aber es gehört – wie der Polit-Thriller „Evita“ – zu den tiefsinnigeren. Dabei ist es gänzlich unromantisch – in der einen wie der anderen Bedeutung des Wortes: Die Liebesromanze zwischen dem erfolglosen Drehbuchautor Joe Gillis und der Set-Assistentin Betty Schaefer wird ziemlich flott abgehandelt und bietet kaum eine Schnittstelle, an der sich ein sentimentales Publikum andocken könnte.

Wie überhaupt „Liebe“ in diesem Stück vor allem in Zerrformen vorkommt: als verzweifeltes Begehren bei Norma, die den jungen Mann in ihrer Villa zum Objekt ihrer depressiv-egozentrischen Sehnsucht macht. Als düstere Obsession bei Max, dem einst erfolgreichen Regisseur, Entdecker und ersten Ehemann der damals blutjungen Aktrice, der ihr die Welt als Illusion perfekt konservieren will. Und als von Berechnung vernebelte Verliebtheit bei Joe, der sich halb aus Not, halb aus Faszination auf Norma einlässt und erst in einer katastrophalen Zuspitzung die Kraft findet, das Spiel zu beenden.

Und Betty, die ihren viel beschäftigten Verlobten Artie vergisst, um sich Joe zuzuwenden? Sie ist ein zu holzschnittartig konzipiertes blondes Girl, um als Charakter zu überzeugen: Ihr nimmt man eher ab, dass sie sich als selbstbewusstes, durchsetzungsfähiges Rädchen im Ablauf der Filmindustrie gerne zum Getriebe entwickeln würde.

Unsympathische Charaktere? Nicht ganz. Norma Desmond strahlt in ihrem Verharren in einer gloriosen Vergangenheit eine gewisse Größe aus, ihre Gier offenbart eine traurige Bedürftigkeit nach Zuneigung. Max entlarvt sich jenseits seines sinistren Charakters als zutiefst tragische Figur, ein Gefangener der Vergangenheit wie sein Idol Norma. Ob man Joe mögen sollte, ist so klar nicht zu beantworten: So subtil er von der Schauspielerin umgarnt wird, so unverfroren spielt er mit ihren seelischen Defiziten. „Sie hat ihre Hoffnung – ich bin satt und elegant“, resümiert er.

Diese mehrschichtigen Charaktere sind eine Herausforderung, der sich Ivan Alboresi in Würzburg mit einer – für einen Regie-Debütanten im Großen Haus – bemerkenswert sicherer Hand stellt. Man sieht, dass hier ein erfahrener Körper-Darsteller am Werk ist: der Tänzer Alboresi offenbart sich in den geschickt durchchoreografierten Szenen, die von einer großen Zahl von Darstellern rasche und punktgenaue Aktion fordern. Nicht jeder aus dem beinahe komplett solistisch eingesetzten Chor ist auf gleichem darstellerischem Niveau zu führen, manche Aktion wirkt steif und einstudiert. Aber auf der anderen Seite der Bilanz stehen bewegliche Präsenz und liebevoll gestaltete Charakterminiaturen. So etwa der Herrenausstatter Manfred, mit dessen einzigem Satz Paul Henrik Schulte das ganze Haus zum Lachen bringt.

Alboresi hat sich viele Anregungen aus dem Film geholt, ohne ihn zu kopieren. Das Sujet lässt ihm auch wenig Spielraum für andere Lösungen. Sandra Dehler hat die ausladende, geschwungene Freitreppe gebaut, in deren Schatten sich eine Orgel duckt – ein Hinweis auf die Kino-Instrumente der Stummfilmzeit. Die Kissen der Sitzgruppe, die Gitter der Treppen tragen die Initialen der Diva. Filmprojektionen in Schwarz-Weiß fungieren nur selten als Reminiszenzen an die große Zeit des Kinos, der Norma nachtrauert, sondern sind klug eingesetzt, um den Illusions-Charakter ihrer hermetischen Welt zu markieren. Sie lösen geschickt das Problem komplexer Schauplätze (Autofahrt, Filmstudio). Und sie sind – wie die Wasserprojektion zur Zwischenaktmusik nach der Pause – auch ein Signal für psychische Zustände.

Mit den liebevollen, detailreich erfundenen Kostümen von Kristopher Kempf, die selbst die marginalste Figur individuell charakterisieren, hat die Würzburger Produktion ein Plus, das sich in einem beträchtlichen Schauwert niederschlägt. Davon profitiert zu allererst die Figur der Norma. Aber in mondänen Roben muss auch ein mondäner Charakter stecken – und das ist mit Barbara Schöller der Fall. Die Sängerin ist spätestens nach ihren großartigen Auftritt in „Anything goes“ am Würzburger Theater im Jahr 2000 und nach ihrer bewegenden Darstellung von Edith Piaf in Pam Gems‘ Stück 2003 als ein Musical-Star etabliert, nach dem sich größere Häuser die Finger lecken würden.

Schöller gewinnt den Aspekten der Figur Überzeugungskraft ab: den gedrechselten Auftritten ebenso wie dem heulenden Elend, der kreatürlichen Durchtriebenheit ebenso wie der splendiden Fassade. Sie ist in einem Moment auf der Stilhöhe der vollendeten Diva, im anderen im schmerzlichen Tief der alternden, liebesbedürftigen, einsamen Frau. Dass Schöller singen kann, veredelt die Musik: Sie hebt sich weit über das stimmliche Katzengold der nasig-dünnen Musical-Stimmen hinaus, wie sie heute stilbildend geworden sind. Ihre Ansätze sind weich, ihr Piano echt, ihr Vibrato natürlich.

Bei Robert D. Marx als Joe Gillis kann man das so nicht sagen: Er zählt eher in die Kategorie der Musical-Darsteller, denen man an einer Entertainment-Schule ein Vibrato aufs Stimmchen presst und sie dann an den Microport koppelt. Marx ist athletisch und blond, kann gewinnend lächeln und sich gekonnt in den Spot der Aufmerksamkeit spielen. In Wien ist Marx seit 2004 regelmäßig tätig: am Theater an der Wien in „Elisabeth“, am Raimund-Theater in „Rebecca“ und in „Rudolf – Affäre Mayerling“, ab März 2014 wieder in „Mamma Mia“. Aus seinem psychologisch kaum durchdrungenen Verhalten lässt sich eher die zynische Ader erschließen; dass Joe auch von Normas Aura fasziniert ist und der einsamen Diva etwas Mitleid entgegenbringt, wird weniger deutlich.

Anja Gutgesell führt ihre Stimme hell, klar und präsent – ein Vorteil, wenn mit Microport gesungen wird. Ihre Betty Schaefer, eine selbstbewusste Blondine, hat aber schon von der Rolle her keine Chance, sich als ernsthafte Gegenspielerin von Norma zu beweisen. Ein bisschen Liebe, ein paar Tränen, eine entsetzte Flucht – das bleibt ihr, und Anja Gutgesell macht das Beste daraus. Daniel Fiolka liefert als Max eine Paraderolle ab: Nicht nur gesanglich überzeugt das Würzburger Ensemblemitglied auf der ganzen Linie, auch das Porträt des in Formen erstarrten Butlers, der sich in einer skurrilen Szene als Ex-Ehemann und Ex-Regisseur outet, gelingt ihm facettenreich. Ein Mann, dessen an Masochismus grenzende Aufopferung die Scheinwelt Norma Desmonds bis zum wahnsinnigen Ende stützt.

„Sunset Boulevard“ leidet vielleicht etwas darunter, dass ihm der prägende Nachsing-Hit fehlt. Dennoch ist die Musik charaktervoller als die vieler Gute-Laune-Musicals, die entweder auf bekannte Ohrwürmer zurückgreifen oder einen Leit-Song in viel Mainstream-Marmelade baden. Webber setzt zum Beispiel einen Tango ein, um Normas vitale Leidenschaft auszudrücken, die sich freilich in einem verlebten Rhythmus offenbart. Schon Franz Waxman hat das in seiner klugen Musik zu Wilders Film getan.

Webber kennt die harten, gleichmäßigen Rhythmen aus der Show-Musik der dreißiger Jahre, die schmeichelnden Legato-Girlanden und die schmutzigen Akzente der Saxofone, den Sound der Music-Hall-Schlager und das Sentiment der Filmgeigen. Aber er imitiert nicht, er lässt sich inspirieren. Das Würzburger Philharmonische Orchester bleibt diesen stilistischen Anklängen nicht schuldig: Jeremy Atkin führt mit Stilgefühl. Zu Norma Desmonds „Salome“-Schinken ist es nie gekommen – dass aber Würzburg als nächste Opernpremiere am 5. April die Strauss-Oper bringen wird, darf ruhig als augenzwinkernd verborgene Verbindungslinie im Spielplankonzept registriert werden.

 

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