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WÜRZBURG: LA GAZZA LADRA von Gioacchino Rossini. Neuinszenierung

21.02.2014 | KRITIKEN, Oper

WÜRZBURG: LA GAZZA LADRA von Gioacchino Rossini am 19.2. 2014 (Werner Häußner)

Eine Bagatelle. Meint man. Ein Dienstmädchen hat einen Silberlöffel gestohlen. Behauptet man. Und ruckzuck wird aus einer im Gespräch dahingeworfenen Beschuldigung ein Anlass zu einem Prozess. Unter Bedingungen des Kriegsrechts. Das bedeutet: bei Verurteilung Todesstrafe. Gioacchino Rossinis „La gazza ladra“, zu deutsch „Die diebische Elster“, nutzt im Libretto von Giovanni Gherardini nach einem zeitgenössischen französischen Boulevardstück einen Anlass, der kaum der Rede wert scheint, um ein Drama auf Leben und Tod zu entfesseln. Es steigert sich, wie der Intrigant Don Basilio im „Barbier von Sevilla“ schildert: Aus einem kaum wahrnehmbaren Windhauch wird ein dröhnendes Unwetter. Ein existenzielles Crescendo, denn am Ende steht hier der moralische, dort der physische Tod. Vernichtung, geplant mit bösem Vorsatz. In der „diebischen Elster“ ist die Tücke konzentriert bei einem „Podestá“, einem der lokalen Machthaber, denen eine Dorfgesellschaft nichts entgegenzusetzen hatte, weder ökonomisch noch politisch oder intellektuell. Vor diesem Hintergrund wird eine Geschichte verständlich, die aus heutiger Sicht absurde Züge trägt: Besteckdiebstahl als Kapitalverbrechen – das ist wirklich nicht mehr zu vermitteln.

Anno 1817 war das anders: Wie Dramaturg Christoph Blitt in einer klugen Reflexion auf die Gattung der „Semiseria“ – zu der man Rossinis als „Melodramma“ ausgewiesenes Werk zählt – bemerkt, war es gerade der Realismus der Oper, der die Zeitgenossen des Komponisten verstörte. Wer das Libretto heute noch mit wachem – und zur Abstraktion fähigem Sinn – liest, kann immer noch entdecken, warum: Der Podestá würde nämlich zu gerne das Dienstmädchen Ninetta vernaschen (sexuelle Nötigung), er reagiert auf die selbstbewusste Zurückweisung (in patriarchalischen Gefügen unangemessenes Beharren auf selbstbestimmte weibliche Sexualität) nicht nur mit der Wut des Gedemütigten, sondern auch mit dem arglistigen Hintersinn eines juristisch versierten Rachsüchtigen. Der zufällig aufgeschnappte Vorwurf in einer eher familiären Auseinandersetzung wird zum „Fall“. Was folgt, ist ein Indizienprozess, in dem Menschen, die wohl kaum lesen und schreiben können, chancenlos einer vermeintlich zutreffenden Kette von Schlussfolgerungen ausgeliefert sind. Wer hinter die zeitgemäße, heute harmlos wirkende Einkleidung blickt, fragt sich: Wie weit weg ist da der Dorfrichter Adam aus Kleists „Zerbrochenem Krug“? Und wie nahe liegt diesen Menschen der Büchner’sche Seufzer: „Wir arme‘ Leut“? Das glückliche Ende ist der Notwendigkeit des Genres und den empfindsamen Nerven damaliger Zuschauer geschuldet – und natürlich auch dem Unterhaltungs- und Schauwert, den eine Oper dieser Art einfach mitbringen musste: Der Bauernbusche Pippo entdeckt durch einen Zufall das Nest einer „diebischen Elster“ im Kirchturm; der Vogel wird im allerletzten Moment als wahrer Übeltäter entlarvt. Mit „halbernst“ oder „komisch“ hat das nichts zu tun: Gattungsbezeichnungen, zumal wenn sie falsch übersetzt oder verstanden werden, führen leicht in die Irre. Gut, in „La gazza ladra“ gibt es die „komische Alte“, die aber hier eher eine auf ihren Besitz versessene Hausfrau mit unbedacht flinker Zunge ist. Es gibt auch den Hausierer á la Dulcamara, der hier „Isacco“ heißt, dessen buffoneske Seite aber weniger wesentlich ist als seine Funktion im Drama. Und das andere Personal trägt – einschließlich des Deserteurs, der sich als ebenfalls von der Todesstrafe bedrohter Vater Ninettas herausstellt – kaum Züge der „opera buffa“. Auch wenn der Pächter Fabrizio, in dessen Diensten Ninetta steht, durch seinen Plapperton als Trottel gekennzeichnet ist, der seiner gewitzten Frau wohl nichts entgegenzusetzen hat.

Daraus nun in bester Absicht eine fränkische Winzerdorfposse zu destillieren, wie sie Andreas Beuermann in seinem Regiedebüt am Mainfrankentheater Würzburg nicht ohne Geschick umgesetzt hat, bleibt an der Oberfläche von Rossinis Werk hängen. Sicher trägt das Stück, wie Beuermann zutreffend erkennt, märchenhafte Züge. Aber Rossinis Märchen – siehe „La Cenerentola“ – fehlt das Wunderbare wie das Gleichnishafte; ihre Moral ist durch distanzierende Musik gebrochen, überzogen von der Ironie, die uns stets daran erinnern will, dass die glücklichen Fügungen der Finali der Welterfahrung des Skeptikers Rossini entgegenstehen. Hübsch anzusehen sind die Kostüme Götz Lanzelot Fischers: Gewaltige Hauben für die Matronen des Dorfes, aparte Anklänge an die Mode der „Freischütz“-Zeit für die Mädchen, trikolorierte Uniformen für die Soldaten, komisch Kariertes für die Herren. Rote Weinnasen und voluminöse Gesichtserker (Maske: Wolfgang Weber) verstärken den Zug ins grotesk Übertriebene, der sich bisweilen auch in der Bewegungsregie niederschlägt. Aber da die Wilhelm-Busch-Bilderwelt nicht gebrochen wird, stützt sie eher den Zug zur harmlosen Komödie, als ihn durch widerständige Signale zum Stocken zu bringen. Auch das Bühnenbild Herbert Buckmillers mit seinen putzigen Häuschen kommt nicht über nett gestaltetes Illustratives hinaus, das man alles schon einmal gesehen zu haben meint. Der Beifall, einzelne Kritiken und ein Leserbrief in der Lokalpresse beweisen: Diese Art von Unterhaltungstheater kommt in der Würzburger Provinz an; hier gibt es noch ein Publikum, das die selige Theaterwelt von gestern nicht vergessen hat und heiter goutiert. Mag sein, dass sich Beuermann vor solchen Erwartungen zu schnell auf die sichere Nummer zurückgezogen hat. Denn eine Figur legt nahe, dass er auch anders könnte: Der zunächst amtseifrige Sekretär des Podestá – David Hieronimi im Kostüm des Intellektuellen der Goethezeit – durchschaut die Intrige und macht sie nur noch angewidert mit. Am Ende wirft er dem entlarvt fliehenden Scheusal wütend die Tasche nach. Und auch der weinselige Pfarrherr erlaubt sich heimlich subversive Aktionen. Originell gelöst hat die Würzburger Inszenierung das Auftreten der Elster: Verkörpert durch den Tänzer Ivan Alboresi – alternierend besetzt mit Leonam Santos – gleitet sie als Phantom mit gewaltigen Schwingen durch die Szene, unbemerkt von den Menschen des Stücks: eine unheimliche Maske, ungreifbar, mit dem Hauch eines Dämons, der auch durch einen wackeren Schuss aus einer Büchse kein Leben, sondern höchstens ein paar Federn verliert. Die Musik der „gazza ladra“ ist Rossini vom Feinsten. Sie fasst in ihrer wirbelnden Agilität, ihrer koketten Bläserkoloristik, ihrer Crescendolust und ihrer distanzierten Überhebung die Erfahrungen aus Rossinis erstem produktivem Jahrzehnt zusammen und verweist auf künftige Experimente – von „Armida“ über „Mosé in Egitto“ bis „Ermione“. Nicht umsonst wird der erhabene Ausdruck der Chöre und des Trauermarschs im zweiten Akt gerühmt. Für die Momente lyrischer Innerlichkeit, sanfter Traurigkeit, aber auch feurig-jugendlichen Aufbegehrens findet Rossini zu einer modernen Expression, die er in seinen neapolitanischen Opern kultivieren und perfektionieren sollte.

Das Philharmonische Orchester Würzburg lässt sich auf dieses Ausdrucksspektrum ein, spielt geschmeidig und beweglich, luftig und präsent, einstudiert und in der Premiere dirigiert von Giovanni Battista Rigon, der „La gazza ladra“ bereits 2013 im Teatro Filarmonico in Verona geleitet hatte. Bei der besuchten Vorstellung stand Studienleiter Alexis Agrafiotis am Pult, ließ dynamisch nicht immer genügend differenziert und mit trockenem, bläserlastigem Klang musizieren – der jedoch auch der wenig freundlichen Akustik des Hauses geschuldet ist. Zuverlässig und klangschön: der Chor des Mainfrankentheaters unter Michael Clark. Die Solisten zeichnen ein ambivalentes Bild: Sie zeigen, wie schwer es ist, mit einem Ensemble, das „alles“ singen muss, Rossinis hohe Stilistik zu erreichen – aber auf der anderen Seite auch, dass musikalisch anregende Ergebnisse nicht von Spezialisten abhängen. So empfiehlt sich zum Beispiel der Tenor Joshua Whitener: Sein Giannetto ist ein temperamentvoller junger Mann, der wütend und ohnmächtig schäumt, weil er die Willkür durchschaut, ohne dem maliziös eingesetzten juristischen Druck etwas entgegensetzen zu können. Aber Whitener bewältigt auch die Tessitura der Rolle anstandslos, lässt Hochtöne glänzen und bringt sein anfangs müde klingendes Vibrato gut in den Griff. Auch Sonja Koppelhuber aus dem Würzburger Ensemble nimmt als Pippo für sich ein. Der lyrische Mezzosopran hatte als Euridice in Glucks „Orfeo“ oder als Anna in Meyerbeers „Africaine“ bereits ansprechende Zeugnisse einer warmen, geschmeidigen Stimme gegeben. Für Rossini eignet sich ihr schlanker, dennoch substanzvoll und entspannt gebildeter Ton bestens. Daniel Fiolka (Fernando) setzt ebenfalls eine Reihe erfolgreicher Rollenporträts fort; seinen Bariton zeichnen Präsenz und klare Artikulation aus. Ji-Su Park – in Würzburg der saturierte Weingutsbesitzer Fabrizio – ist mit der agilen Wortakrobatik Rossinis überfordert, überzeugt jedoch, sobald er mit mehr Ruhe und Stetigkeit singen darf. Barbara Schöller charakterisiert die Haus- und Pächtersfrau Lucia als energische Frau, die ihrer Schwiegertochter eine Lektion erteilen will und zu spät merkt, welche fatale Entwicklung sie angestoßen hat. Johan F. Kirsten als Podestá punktet eher durch Bühnenpräsenz als durch seinen stilistisch groben Gesang und den unzureichend fokussierten Ton. Als Gast aus Italien hat GMD Enrico Calesso die 23-jährige Giulia Bolcato verpflichtet, ein lyrischer Sopran aus der Gegend von Vicenza. Sie hat unter anderem bei Rita Lantieri studiert und ist zuletzt als Susanna in Vicenza hervorgetreten, wo sie unter Dirigent Rigon in Mozarts Oper in einer wiederentdeckten neapolitanischen Version von 1814 gesungen hat. Bolcato repräsentiert leider das Elend des zerfallenden italienischen Musiklebens, das auch vor den Konservatorien nicht Halt gemacht hat: Junge Stimmen aus Italien sind begabt, aber ungenügend gebildet. Kein Wunder, dass Osteuropa, Amerika und Asien dem einstigen Mutterland des Belcanto längst den Rang abgelaufen haben. Im Falle Giulia Bolcatos treffen wir auf eine bewegliche, angenehm timbrierte lyrische Stimme. Agilität und Phrasierungsgabe sind ausgeprägt. Aber ausgerechnet in der Höhe, wo ein Sopran ihres Typs einen sauber gestützten, substanzreichen, flutenden Klang entwickeln müsste, produziert Bolcato verfestigte, weißlich gefärbte Töne. Vermutlich ist es, wie so oft, ein Problem der korrekten Atmung, das ihr den Zugang zu einem lockeren schwingenden, gerundeten Ton verstellt. –

Würzburg ist mit „La gazza ladra“ mutig in einen Bereich vorgestoßen, den die deutschen Opernhäuser unverständlicherweise ignorieren: Von Rossini wird nach wie vor meist Populäres aus dem „komischen“ Repertoire gespielt. Musikalisch erweist sich das Experiment als tragfähig, szenisch wäre die Relevanz der „diebischen Elster“ noch zu erschließen. Mal sehen, ob es David Alden an der Oper Frankfurt schafft: Dort hat das selten gespielte Werk am 30. März Premiere.

Werner Häußner

 

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