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WIEN/ Volksoper: TURANDOT

01.03.2014 | KRITIKEN, Oper

28.02.2014 „Turandot“ WA, Volksoper

 Wenn mir Opernfreunde begeistert von einer guten Turandot-Aufführung erzählen, so nutze ich die erste „Generalpause“ in ihrem Redefluss ihnen eine Rätselfrage zu stellen. Was ist an dem Prinzen Calaf so anders als bei den früheren unglücklichen Werbern, dass er die drei Rätsel lösen kann? Diese Frage konnte bisher niemand beantworten, so sehr meine Befragten auch nachdachten.

 Steigen wir in die Frühgeschichte der Märchen und Sagen hinab, so finden wir überraschende Vernetzungen. Die drei Rätsel der Kaisertochter erscheinen als der letzte Rest einer gefährlich dornenbewehrten Burg, die Prinzessin in „Dornröschen“ wird im Laufe der Jahrhunderte immer lieblicher. Die geradlinige Einfachheit der ursprünglichen Erzählungen lassen, ähnlich den Geschichten in der hebräischen Bibel,  viele Fragen offen. Elliott Rabin spricht bei letzteren von einer Emmentaler-Struktur. Was Carlo Gozzi in seiner Dramatisierung des Märchens und Friedrich Schiller in seiner Nachdichtung von Gozzis „Turandot“ getan haben, können wir mit der jüdischen haggadischen Midrasch-Literatur vergleichen, die Antworten auf das Unerörterte und auf offene Fragen im Weiterspinnen der Erzählung sucht. Das moderne Regietheater geht oft den gleichen Weg. Ist die Kälte der Prinzessin als Notwehr gegen eine beherrschende Männerwelt zu entschuldigen? Ist sie durch ihren hohen Intellekt nicht ehefähig?  Wie geht ihr Vater der Kaiser damit um? Was hat dies für Auswirkungen auf das Reich und die Untertanen? Ist der Todesmut der Werber nicht als Wahnsinn zu sehen, sondern vielmehr mit der Abenteurerlust der Seefahrer und Entdecker vergleichbar? Wie viele bemannte Einbäume erreichten die ersehnten Inseln? Um den Gesetzen der Bühne gerecht zu werden, müssen dann noch weitere Handlungsstränge hinzugefügt und neue Figuren erfunden werden. Bei Gozzi tritt eine Sklavin Turandots namens Adelma auf, die den Prinzen Calaf begehrt und für sich und ihre Freiheit gewinnen will. Typen der Commedia dell´arte werden ausgeliehen, um den Ernst und das Grausame tragikomisch aufzulockern. Die „lebendige Mitte“, um mich an einen Terminus des Kunsthistorikers Hans Sedlmayr anzulehnen, geht auf diese Weise der Erzählung nach und nach verloren, wie ich es am Schluss meiner Besprechung noch deutlicher ausführen werde.     

 Unter dem Titel „Es ist ein Märchen“  spricht André Barbe (Bühne und Kostüme) von der Vorgabe des damaligen Direktors Rudolf Berger nach unzähligen Turandot-Inszenierungen nicht mehr ein traditionelles China auf die Bühne zu stellen, sondern etwas, was der Volksmund mit „chinesisch“ zum Ausdruck bringt, nämlich das Ungewohnte, befremdend Neue. Die Welt der Insekten und die Hierarchie der Ameisen dienten zur Anregung. Dabei wird betont, dass die Figuren auf der Bühne keine Insekten sind. Wenige Absätze später lese ich aber doch: „Turandot ist ein Nachtfalter, eine Motte.“ Und bei der Henkerin hatten sie die Gottesanbeterin vor Augen. Der Regisseur und Choreograf Renaud Doucet ergänzt, dass nach einer Legende der erste Chinese von einem weiblichen Schmetterling abstamme.

 Aber diese Gedanken verblassen, geht einmal der Vorhang auf und die Bühne wird zu einem unbeschreiblichen Erlebnis  an Ausstattung, Farbe, Licht (Guy Simard) und Bewegung. Doucet und Barbe setzten sich zum Ziel aus der „Turandot“ eine Volksoper zu machen. Chor, Zusatz- und Kinderchor der Volksoper Wien tragen da viel zum Erfolg bei. Thomas Böttcher schaut darauf, dass hier keine groben Volksmassen singen, sondern – nennen wir es feinsinnige Wesen. Und das Orchester der Wiener Volksoper unter Guido Mancusi, manchmal harter Kritik unterworfen,  trug ebenfalls zu einem erfolgreichen Abend bei. Die Wiederaufnahme, gleichzeitig die 27. Vorstellung wurde vom Publikum im ausverkauften Haus mit knisternder Spannung erwartet.

 Der Mandarin ist in dieser Oper Repräsentant des Kaisers, stellt gleichsam den Kaiser während seiner Abwesenheit dar. Einar Th. Gudmundsson hatte diese sogenannte Nebenrolle zu bewältigen. Die drei Minister waren erfreulicherweise jungen Sängern anvertraut. Günter Haumer nahm, wo angebracht, mit seiner dunkleren Baritonstimme die Führungsrolle wahr. JunHo You erschien mir ein klein wenig präsenter als David Sitka. Ein gelungenes Terzett!

 Ähnlich wie der Erste Nazarener in der „Salome“ oder der Tommaso in „Tiefland“ ist der Timur eine mittlere Rolle, die bei den Auftritten zum Mittelpunkt werden soll. Dafür konnte die Volksoper in Yasushi Hirano den geeigneten Mann anbieten. Alternierend wird er auch den Mandarin singen. Liù  ersetzt bei Puccini und seinen Librettisten Giuseppe Adami und Renato Simoni Gozzis zwielichtige Adelma und wird zur sich aufopfernden Frau. Kristiane Kaiser hatte beim Publikum in dieser Aufführung den größten Erfolg. In den gefühlsbetonten, lyrischen Stellen lag ihre Stärke, in den erregenden (dramatischen) Momenten zeigten sich Schwächen.

 Es freut mich, dass Neil Shicoff nun endlich zur Rolle des Calaf gefunden hat. Er ist seiner Persönlichkeit entsprechend nicht der „Sieg-Fried“, der einen Feuerwall durchbricht, oder der Mann, der  in eine Dornenhecke eine Bresche schlägt. Er ist nicht der strahlende Held, sondern der intellektuelle Grübler, dem man zutraut die Rätsel zu lösen. Kein anständiges Verhalten wäre es, seine Leistung mit den Sternstunden seines erfüllten Sängerlebens zu vergleichen. Nach dem berühmten „Vincerò“ aus Tradition einen Szenenapplaus durchsetzen zu wollen, wäre nicht notwendig gewesen.

 Schwierigkeiten bereitet die Partie des Kaisers Altoum. Einerseits soll seine Hinfälligkeit gezeigt werden, andrerseits gebührt ihm göttliche Ehre. Der verdiente Otoniel Gonzaga entspricht nicht meiner Vorstellung. Neben dem Calaf müsste da eine zweite große Tenor-Persönlichkeit den Raum füllen, der heldische mit charaktertenoralen Eigenschaften vereint. 

 Das, was mich an diesem Abend in die zweite Pause hinein bewegt hat: Turandots erster verbaler Auftritt mit „In questa reggia“. Hier war nicht eine Künstlerin zu bewundern, wie in den Siebzigerjahren eine berühmte schwedische Sängerin, die als medizinisches Stimmbänderwunder galt. Hier stand in Jee-Hye Han eine Frau auf der Bühne, von kleiner, nicht erhabener Gestalt, aber ihr Vortrag und Gesang erweckte Sym-Pathie und ich bangte mit, dass Calaf für sie die Rätsel löst, um diese Frau in ein neues Leben zu befreien. Viele Gründe sind für ihre Rettung bestimmend. Ihre unbewusste Hilfe beim dritten Rätsel, die erstmalige Erfahrung einer selbstlosen Liebe am Beispiel der Liù und die Wahl des richtigen Augenblicks vonseiten des  Prinzen für eine nähere Vertrautheit. Auf welchen tragischen Fundamenten dieses „Glück“ aufgebaut ist, habe ich anscheinend an diesem Abend oder bei dieser Regie verdrängen können.

   Zum Abschluss nun meines Rätsels Lösung. Auf welche Weise der Prinz vor dem Unheil seiner Vorgänger bewahrt wird, erfahren wir in den „Sieben Geschichten der sieben Prinzessinnen“, des persischen Dichters Nizami, der im 12. Jahrhundert lebte. In der Erzählung „Was die russische  Prinzessin am Dienstag in der roten Marskuppel erzählte“

 Unbenannt
Miniatur © Universitätsbibliothek Tübingen
 
 lesen wir, dass der Prinz im Sinn der Hochethik dieser Dichtung sein Verlangen nach der Prinzessin vorerst beherrschte und in die Schule weiser Männer ging. Er trat geläutert seine Reise zur Prinzessin an, mit dem Willen, dass sein Mitleid mit den nicht enden wollenden Opfern die Triebkraft seines Handelns werden muss. Eigenes Glück lässt sich nicht krampfhaft erringen.

 PS: Die vier Rätsel (Quaternität anstelle von Trinität) sind bei Nizami der Austausch von Geschenken, deren Zeichencharakter im Geben und Nehmen beide verstanden. Ein feinfühliges einander Verstehen war also der Rätsel Lösung. So schenkte der Prinz zum Schluss der Königstochter eine Perle, sie riss darauf ihre Halskette auf und fand tatsächlich eine ebenbürtige und, da es eine dritte nirgends mehr geben würde, ergänzte er mit einer blauen Glasmurmel. „Bereite unsre Hochzeit vor, Vater“, waren dann ihre Worte.

 Lothar Schweitzer

 

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