Fotos: Theater an der Wien
WIEN / Theater an der Wien:
IDOMENEO von Wolfgang Amadeus Mozart
Premiere: 13. November 2013
Dass unser Wolfgang Amadeus einen Vaterkomplex hatte, und zwar einen ziemlich großen, aus dem er sich recht schmerzhaft befreite, ist unbestritten. Und in keinem seiner Werke wird das Thema deutlicher angesprochen als in der frühen Seria „Idomeneo“. Wenn also Regisseur Damiano Michieletto für seine Inszenierung des Werks im Theater an der Wien am Anfang und am Ende Videosequenzen stellt, so thematisieren sie genau das: Zuerst steht ein kleiner Junge in Unterwäsche vor einem riesig wirkenden, prüfend blickenden Vater, unter dessen Augen er sich anzieht. Am Ende, wenn das Orakel Gnade walten lässt, sieht man – es ist fast auf Anhieb klar – einen Fötus. Dass Ilia schwanger ist, hat man ja schon während der Vorstellung bemerkt. Michieletto vollendet die Familiengeschichte im Generationentakt – nachdem er Idamante zum König gemacht hat, hat sich Idomeneo zum Sterben hingelegt und wird vom Sohn mit Erde bestreut. Dann setzen bei Ilia (mit entsprechenden Schreien) die Wehen ein, und Idamante holt eine blutige Babypuppe hervor, die er dann zum toten Vater bringt… Dergleichen Rührseligkeiten sieht man normalerweise in schlechten Filmen.
Aber Michieletto hat aus dem „Idomeneo“ nur in zweiter Linie eine wirre Familiengeschichte gemacht. In einer Produktion, die letztlich von dem „Katastrophen“-Bühnenbild von Paolo Fantin beherrscht wird, der Szenen hinstellt, die aus dem jüngsten Taifun auf den Philippinen stammen könnten, geht es ihm vor allem darum, Verheerung zu schildern. Der Boden ist mit Erde bedeckt, darin stecken Knochen, besonders viele Schuhe. Es ist ein Untergrund, der allen schon einmal das Gehen schwer macht, was eine gewisse Unsicherheit des Bewegungsduktus erzeugt (das dürfte vermutlich beabsichtigt sein). Und es kommt im Lauf des Abends noch schlimmer – so, wie da mit Hilfe von Sesseln oder Matzatzen weitere Zerstörungs-Szenarien gebaut werden, das ist, man muss es eingestehen, handwerklich meisterlich gemacht, vom Bühnenbildner wie vom Regisseur. Aber ist die Handlung des „Idomeneo“, wie Michieletto versichert, damit zeitgemäßer geworden? Zumal er im Programmheft so eifrig vom Trojanischen Krieg spricht und von allen antiken Zusammenhängen, die im Libretto wohnen und die in entweder heutigen oder fetzigen Kostümen (von der Ausnahme wird noch die Rede sein) von Carla Teti gar nicht mitwirken. Aber es gibt Blut, viel Blut, und auch der Chor scheint optisch aus einer Katastrophe in die nächste geworfen zu sein, bis er zum „Happyend“ (?) einmal in sauberem Allerweltsgewand erscheinen darf…
Es gibt Stellen, da führt Michieletto sein Hauptdarsteller-Quartett in der Interaktion wirklich überzeugend, vor allem die Vater-Sohn-Beziehung wird sehr stark herausgearbeitet. Aber welche Geschichte erzählt wird, das klärt sich nicht. Diese Inszenierung bietet Bilder, die so stark und erschreckend sind, dass sie so gut wie immer von der Musik ablenken, aber viel mehr ist da nicht zu begreifen. Man hat nicht das Gefühl, dass Substanzielles zu einer „Idomeneo“-Interpretation geleistet wurde.
Ganz besonders bemerkenswert ist, wiederum auf das führende Sängerquartett bezogen, der gesangliche Teil des Abend, was vermutlich auf Übereinstimmung mit dem musikalischen Leiter René Jacobs zurückzuführen ist. Er dirigiert das Freiburger Barockorchester, das ganz selbstverständlich nach „alten Instrumenten“ klingt, aber ohne die Schroffheit, die manchem Ensemble dieser Art innewohnt. Im Gegenteil – bei Jacobs scheint das Orchester mitzusingen, umschmeichelt mit einem edlen, unforcierten, fließenden Mozart-Ton, der gelegentlich der Dramatik des Geschehens etwas schuldig bleibt.
Vier Sänger führen ihre Stimmen ebenso – wunderschön, ohne Druck. Richard Croft in der Titelrolle, optisch ein unspektakulärer älterer Herr, der auch darstellerisch nie auf die Tube drückt, lässt mit hörbar großartiger Technik die hohe Schule des Mozart-Gesangs hören, wie sie überzeugender nicht gedacht werden kann. Ähnlich die Französin Gaëlle Arquez als Idamante, ein heller, aber „klingender“ Mezzo vom feinsten, dazu eine schlanke, hübsche Erscheinung, die darstellerisch viel bringt. Sophie Karthäuser als Ilia, optisch immer ein Kriegsopfer, zerrauft und in Fetzen, singt sich Nöte vom Herzen, ohne sie zu forcieren.
Aber im Zentrum des Abends steht, hier ganz mit Hilfe des Regisseurs, die Elettra der Marlis Petersen. Die Dame, sehr goldblond, sehr sexy daherstöckelnd, ist die böse Hexe des Spiels. Eine aalglatte, fast platte Intrigantin, die zwischen Vater und Sohn schwankt und die Rivalin wegstößt. Die große Arie im 1. Akt ist ein Meisterstück der Logistik, man weiß gar nicht, wie sie zum Singen kommt, muss sie doch in einem Dutzend Designertüten wühlen und zahlreiche Röcke, Kleider, Umhänge, Accessoirs herausholen, die sie sich über ihren makellosen, im Korsett steckenden Körper nacheinander anzieht. Modeschau, auch später – und im letzten Akt dann die Entblößung: Da zeigt Marlis Petersen, wozu sie bereit ist. Nicht nur, sich die Kleider und die Perücke vom Leib zu reißen, sondern sich auch noch im Schlamm zu wälzen, bis sie vollkommen damit bedeckt ist. Dass ihre finale Wut-Arie solcherart zwar phänomenal gespielt wird, täuscht nicht darüber hinweg, dass sie kaum in ihrem ganzen stimmlichen Umfang gesungen wird – tatsächlich passt sie sich dem edlen Mozart-Gesangsstil ihrer Kollegen an und ist solcherart nur in der Darstellung, nicht mit der Stimme jene Elettra furiosa, die im Libretto vorgesehen ist…
Julien Behr gelang die Arie des Arbace nur einigermaßen, der Gran Sacerdote di Nettuno war bei Mirko Guadagnini trocken bei Stimme. Bedenkt man, was der Arnold Schoenberg Chor (geleitet von Erwin Ortner) auch an „Sich-im-Dreck-wälzen“-Kunststücken leisten mussten, vergaß er doch dabei nie, Mozart prachtvoll zu singen – so edel verhalten, wie Jacobs den ganzen Abend anlegte.
Regiekollege Claus Guth, der derzeit im Theater an der Wien „Lazarus“ probt, war unter den Premierenbesuchern. Was er, der oft wahrlich radikal vorging, sich angesichts dieser Blut-und-Zerstörungs-Orgie wohl gedacht hat? Dass andere immer noch weiter gehen, vermutlich… Und das Publikum braucht auch immer größere Dosen Schockpotential – sollte es am Ende neben dem Jubel Widerspruch gegeben haben (man meint, so etwas rudimentär gehört zu haben), so wurde er von der brüllenden Begeisterung weitgehend überdeckt.
Renate Wagner