TadW IAIN BELL A Harlot‘s Progress. Premiere 13.10, besuchte Vorstellung am 24.10.2013
Foto: Werner Kmetitsch
Als Auftragswerk des Theaters an der Wien besteht diese Oper formal aus sechs Szenen mit musikalischen Zwischenspielen, denen, ebenso wie Strawinskys Rake‘s Progress, ein Kupferstichzyklus gleichen Titels des britischen Malers William Hogarth von 1732 zu Grunde liegt. Der britische Schriftsteller Peter Ackroyd (geb. 1949*) verfasste das Libretto. Kolportiert wird das Gerücht, dass sich Diana Damrau durch ihre Agentur für eine Aufführung dieser Oper stark gemacht hat. Immerhin hat Komponist Bell bereits einige Lieder für die Damrau geschrieben, die zu einer befruchtenden künstlerischen Freundschaft führten.
In Wien gab es immer schon ein Publikum, das neugierig auf neue oder dem Dornröschenschlaf entrissene Opern ist. Dies erklärt auch, dass das Theater an der Wien, von wenigen leeren Plätzen abgesehen, an diesem Abend sehr gut besucht war.
Wurde bei Strawinskis Rake’s Progress der Abstieg eines Wüstlings geschildert, so ist es hier jener eines einfachen, naiven Mädchens vom Land, namens Moll Hackabout, die von ihrer Umgebung – nomen est omen – regelrecht seelisch und letztendlich auch körperlich zerstückelt wird. Zwar fehlt in dieser Oper ein diabolischer Nick Shadow, doch tritt ihr Geliebter, dem sie abgöttisch ergeben ist, der Zuhälter James Dalton, an dessen Stelle. Nach ihrer Ankunft im Moloch London, wird Moll von der Kupplerin Mother Needham an St. John Lovelace, einen älteren Galan, verkauft. Doch dieser wirft sie aus dem Haus, als er bemerkt, dass Moll ihn mit dem attraktiven Taugenichts Dalton betrügt, der nun ihr Zuhälter wird.
An dieser Stelle sei der literarische Hinweis auf Frank Wedekinds Drama „Tod und Teufel“ (1905) gestattet, wo sich Elfriede von Malchus in den Zuhälter Marquis Casti Piani verliebt und bereit ist, alles für ihn zu tun. Verwandte Charaktere von Moll Hackabout sind natürlich auch Manon und die Kindsfrau Lulu, die aber beide charakterlich resoluter sind.
Wechselnde Männerbekanntschaften führen schließlich zu einer Syphiliserkrankung der schwangeren Moll. Lovelace bereut sein vorschnelles Handeln, stöbert Moll auf, um sie nun endgültig zu verstoßen, als er erfährt, dass sie ein Kind erwartet. Nach der Pause konzentriert sich die Handlung in den Szenen 4 bis 6 ganz auf Moll, die im Gefängnis ihr Kind zur Welt bringt, ein – dramaturgisch gesehen – vielleicht überflüssiges Streitgespräch mit Mother Needham führt, das einzig den Zweck verfolgt, ihr mit der Nachricht von Daltons Tod durch den Strang noch den letzten Lebenswillen auszulöschen. Sie verfällt daraufhin dem Wahnsinn und nur ihre Vertraute Kitty steht ihr zur Seite. In einer schier endlosen Wahnsinnsszene, die eine rigorose Kürzung vertragen hätte, erscheint Moll noch einmal der tote Geliebte. Sie stirbt und Kitty nimmt sich ihrer neugeborenen Tochter an. Im beklemmenden Schlussbild wird die Totenruhe Molls drastisch geschändet, wird ihr Baby von Mother Needham, deren Name als Wortspiel auch als Mutter, auf der Suche nach Frischfleisch (Schinken) für potente Freier, in diesem Zusammenhang gedeutet werden kann, den Armen Kittys entrissen. Und der lüsternen Schar gierender Männer verheißt sie, dass das Baby in acht bis neun Jahren unter ihrer Obhut „reif“ sein werde. Und wenig später sieht man das junge Mädchen dann ebenso neugierig und mit noch unschuldigem, offenherzigen Blick wie Moll zu Beginn der Oper die Bühne betreten und alle gaffenden Blicke sind bereits auf sie geworfen. Der Kreis hat sich geschlossen. Man weiß, diesem Kind wird ein ähnliches Schicksal wie seiner Mutter Moll zu Teil werden…
Musikalisch bedrohlich beginnt die Oper mit dem Einsatz eines Kontrabasses, gefolgt von einer Basstuba und schließlich der Londoner Marktchor, der Moll empfängt, das alles erinnert ein wenig an Benjamin Britten. Aber auch William Alwyn, Granville Bantock und Robert Simpson, britische Klassiker, haben, meinen Ohren nach, kleinere Spuren hinterlassen. Die späteren mehrfachen Vergewaltigungsszenen haben ihre musikalischen Vorbilder sowohl bei Schostakowitsch‘ „Lady Macbeth von Mzensk“ als auch bei André Previns „A Streetcar named Desire“.
Die Musik bleibt den ganzen Abend über gemäßigt tonal. Librettist Peter Ackroyd verwendet eine an Fäkalausdrücken reiche Sprache, die offenbar das Prostituierten- und Halbweltmilieu realitätsnahe charakterisieren soll. Da ist Frank Wedekind in seinem bereits genannten Drama „Tod und Teufel“ weitaus subtiler vorgegangen, denn er erhöht und verfremdet solche Szenen poetisch dadurch, dass er seine Protagonisten in Versen sprechen lässt…
Bühnenbeherrschend ist natürlich die Moll Hackabout von Diana Damrau, der darstellerisch und gesanglich ein wahrer Kraftakt abverlangt wird. Welche andere Sängerin wäre wohl zu solchen leidenschaftlichen, hysterischen Ausbrüchen fähig?
Marie McLaughlin zeichnete in der Rolle der Mother Needham überzeugend das abstoßende Bild der profitgierigen skrupellosen Kupplerin. Tara Erraught als Kitty war eine berührende und aufopferungsvolle Wegbegleiterin Molls mit warmen Mezzo.
Nathan Gunn verlieh dem James Dalton mit seinem kernigen Bariton überzeugende Verführungskraft. Christopher Gillet stattete den St. John Lovelace ideal mit einem eher trockenen Tenor aus. Nicolas Testé fiel hörbar mit seinem markanten Bass in den kleineren Nebenrollen des Coachman, Officer und Jailer auf.
Der Arnold Schönberg Chor unter der Leitung von Erwin Ortner sang und spielte wie gewohnt souverän. Der finnische Dirigent Mikko Franck am Pult der Wiener Symphoniker sorgte dafür, dass der Abend auch an den etwas lang geratenen Stellen nie langweilig wurde.
Jens-Daniel Herzog schilderte die Hogarth’sche Bilderfolge plastisch, ohne sich in allzu drastischen Kopulationsstellungen zu verlieren, was die Handlung belebte und bisweilen sogar humorvoll würzte. Mathis Neidhardt schuf dazu einen von einer weißen Bretterwand begrenzten Bühnenraum, der die Bilderfolge durch fallweises Öffnen rasch verändern konnte. Sibylle Gädeke verortete die Kostüme historisierend im 18. Jhd., herumliegende Cola-Dosen versuchen einen Bezug zur Gegenwart herzustellen. Eine gute Idee ist der Ruß, der vom Schnürboden auf die Bühne regnet und das Leben auf ihr symbolhaft in Schmutz einbettet.
Der für eine Uraufführung doch recht lange Schlussapplaus bedachte alle Protagonisten gleichmäßig, wobei Diana Damrau natürlich die meisten Bravorufe, wen wundert’s, erhielt.
Harald Lacina