WIEN/Konzerthaus: Klavierabend Nikolai Lugansky
Donnerstag, 3. September 2020
Wiener Konzerthaus, Großer Saal
Foto: Totsuka
Nikolai Lugansky, Klavier
Ludwig van Beethoven: Sonate A-Dur op. 101 (1816)
César Franck: Prélude, chorale et fugue M 21 (1884)
Frédéric Chopin: Barcarolle Fis-Dur op. 60 (1845–1846)
Ballade Nr. 4 f-moll op. 52 (1842)
Sergei Rachmaninoff: Préludes op. 23/1, 3, 6, 7, 8, 9, 4 und 5 (1903)
Drei Zugaben von Rachmaninoff (Prélude G-Dur op. 32/5, Felix Mendelssohn Bartholdy: Scherzo op. 61/1, Fritz Kreisler: Liebesleid)
Die strenge Abstandsregelung im Wiener Konzerthaus, die den gelungenen Saisonstart mit dem russischen Meisterpianisten Nikolai Lugangsky überschattet, bringt abseits von allseits bekannten betriebswirtschaftlichen Zerwürfnissen doch einen nicht unerheblichen Vorteil für ernsthafte Musikliebhaber, denen die rezente Entwicklung der Wiener Konzertszene zur touristischen Massenunterhaltung für Halbgebildete zumindest suspekt, wenn nicht unerträglich geworden ist: So ist wohl erstmals in der Musikgeschichte ein von den sich unterhaltenden, hustenden, photographierenden, gelangweilt mit dem Handy spielenden und zwischen den Sätzen applaudierenden Sitznachbarn völlig ungestörtes Musikerlebnis möglich, ohne dafür eine ganze Loge für sich aufkaufen zu müssen (wie es ein Kollege mit besonders feinen Ohren aus guten Gründen immer getan hat).
Eröffnet wird der fulminante Klavierabend mit der Sonate A-Dur op. 101 von Ludwig van Beethoven, die man nicht unbedingt im Kernrepertoire des russischen Pianisten erwartet, sich im Spielstil diesem aber deutlich annähert: In relativ freier Agogik und mit satten Tiefen taucht er in die spätbeethovensche Klangwelt ein, die in Symbiose mit überaus transparenten Höhen im ersten Satz einen beinahe romantischen Eindruck entfaltet. Die Spannung des dritten Satzes lässt sich allerdings mit dieser Spielweise so nicht halten, und der Verzicht auf das Kunstwerk der Präzision macht sich stellenweise im vierten Satz bemerkbar, der für Wiener Verhältnisse teilweise zu hektisch und verschwommen gerät. Dennoch überwiegt am Ende die Bewunderung für die Virtuosität, mit der Lugansky vor allem den anspruchsvoll fugierenden vierten Satz so transparent durchführt und damit die Richtung des Abends vorgibt.
Mit César Francks Prélude, chorale et fugue, die er soeben bei harmonia mundi aufgenommen hat, landet Lugansky nun in jener Epoche, als deren Spezialist er gilt. Mit der kräftigen und doch stets eleganten Basslinie führt er das chromatisch verflochtene Harmoniegefüge durch die unendlichen Modulationsketten und versieht jede harmonische Nuance mit entsprechend durchdachten Farben. Doch wie im dritten Satz Beethovens stößt dieser Zugang auch bei Franck auf Grenzen: Francks Reminiszenz an die Orgelmusik, aus deren Tradition der französische Komponist ursprünglich kommt, lässt sich im Mittelteil zur Gänze vermissen, wenn der chorale Zusammenhang sich in einer technisch sauber balancierten und doch vom Andächtig-Erhabenen des Orgelklangs weit entfernten Aneinanderreihung von Einzelakkorden auflöst. Aber auch hier gleicht Lugansky wieder den Spannungsabfall mit der technisch schlicht brillanten Fuge und der unbedingt symphonisch gedachten Dynamik der farbenprächtigen Coda aus, der bereits vor der Pause wohlverdient mit lauten dreimaligen Ovationen bedacht wird.
Weiter in das Kernrepertoire eindringend folgen auf die Pause relativ gradlinig vorgetragene Spätwerke Chopins, einen ruhigen Bogen spannend über Barcarolle Fis-Dur op. 60 und recht trocken die Ballade Nr. 4 f-moll op. 52, bei der sich die Virtuosität zur Schau stellt, allerdings doch auch mit bemerkbaren Verwischungen, wo ihm doch entweder mehr Präzision oder eine kräftigere Dynamik, wenn nicht beides zugleich, zuzumuten wäre. So wertvoll und beeindruckend nun die große Bandbreite seines Repertoires auch ist, bleibt die pianistische Visitenkarte Luganskys schlicht unersetzbar:
Die Préludes op. 23 von Sergei Rachmaninoff in etwas geänderter Reihenfolge bilden unbestritten den Höhepunkt des Abends, der sich abgesehen von zwei kleinen Unsicherheiten in Nr. 4 sicherlich mit der Qualität seiner eigenen maßstabsetzenden Studioaufnahme messen lässt. Der gereifte Pianist kommt ohne allzu ausufernde Agogik und effektheischende Überdramatik aus, bleibt im Tempo dennoch jugendlich frisch und zaubert die Perlen der russischen Klaviertradition gleichsam aus den Fingern – der pädagogische Ausdruck „das Stück sitzt in den Fingern“ scheint jedenfalls exakt für solche einmaligen Verhältnisse bestimmt. Mit seiner bis ins kleinste Detail perfektionierten Technik brilliert Lugansky, alle Facetten in kurzweilig-abwechslungsreichen Rachmaninoffs auslotend, etwa in Nr. 6 mit einer kompakten Zusammenschau von aufwühlender Dramatik und dem Bogen, in Nr. 7 das Tempolimit knapp überschreitend und dennoch mit einer atemberaubenden Treffsicherheit und in Nr. 4 die kantable Hauptstimme sorgfältigst herausarbeitend, bis er die letzte Nr. 5 jenseits von allen Effekten mit einem abrundenden Fragezeichen enden lässt.
Insgesamt beeindruckt Lugansky technisch mit kontrolliert gleichmäßigem Anschlag und transparent-flüssigen Läufen, musikalisch mit einer nie übertriebenen und doch eindringlichen Dramatik wie mit seiner harmonischen Klangkultur, die ihm zu eigen scheint – nie klingen seine kräftig tönenden Bässe zu gewaltsam, nie geraten seine transparenten Höhen zu durchdringlich – und ein umfassendes harmonisches Register bildet, das er geradezu symphonisch zu bedienen vermag. Ein wahrhafter Meisterpianist, dem wohl nur die allerletzte Präzision den Weg zu den Allergrößten ebnen wird. Sogar mit drei Zugaben bedankt er sich beim begeisterten Publikum, dessen tobender Beifall selbst die zwangsläufig reduzierte Auslastung völlig vergessen macht.
Kohki Totsuka, MA