WIEN / Konzerthaus: Eröffnungskonzert „WIEN MODERN 31“, Wiener Philharmoniker, ohne Dirigent
„Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding“
28.10. 2018 – Karl Masek
Rainer Honeck, Johannes Maria Staud, Wiener Philharmoniker. Foto: Andrea Masek
Muss denn jetzt wirklich auch noch Wien Modern die „Sicherheit“ thematisieren, wo man eh schon seit Jahren keine Zeitung mehr aufschlagen kann, ohne andauernd über dieses Thema zu stolpern? Sagen wir so: Wien Modern kann das, und zwar verhältnismäßig unterhaltsam…“
So der künstlerische Leiter von Wien Modern, Bernhard Günther, im dritten Jahr seiner Intendanz. „Sicherheit“, immer im Gegensatz zu „Risiko“. Nichts wäre langweiliger, als würden bei einem Konzert immer alle auf Nummer sicher gehen und in einer bequemen Wohlfühloase bleiben! „Je schöner etwas ist, desto riskanter ist es“, sagte Nikolaus Harnoncourt einmal. Er, ein Füllhorn, an Zitierenswertem zur Musik, zur Kunst allgemein.
In diesem Jahr gingen die Wiener Philharmoniker betreffend Risiko in zweifacher Hinsicht vorbildlich voran. Sie spielten erstens Werke von John Cage (1912-1992), dem Vertreter des Zufallsprinzips in der Musik und damit einem „offenen Werkbegriff“ – und dem Innsbrucker Zeitgenossen Johannes Maria Staud (* 1974), dessen Oper „Die Weiden“ am 8. Dezember an der Wiener Staatsoper uraufgeführt werden wird. Ein Umstand, der für dieses Orchester zu Beginn von Wien Modern vor nun mehr als 30 Jahren noch völlig undenkbar schien. Und: Sie spielten ohne Dirigent! No risk, no fun, also Mut zum Experiment, Mut zum Risiko, Verlassen liebgewordener Sicherheitszonen, für einen Vormittag!
Zufallsprinzip und offener Werkbegriff auf die Spitze getrieben! Cages 4’33 (aus dem Jahr 1952) ist nichts anderes als eine Zeitangabe. Da kann ein Pianist auf dem Podium sein, ein einzelner Geiger – egal. Oder eben die Wiener Philharmoniker, angeführt vom Konzertmeister Rainer Honeck. Dieser setzt an zum Einsatz, und es kommt: NICHTS. Der Titel bezieht sich nur auf die Dauer des Stücks, und es gibt nur eine Anweisung an die Musiker: „Tacet“ (= er/sie/es schweigt). Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding, fällt mir augenblicklich ein. Die vielfältigen Formen der Stille, wenn man „auf etwas wartet“, zum Beispiel beim Zahnarzt dranzukommen. Und plötzlich spürt man nichts als sie, sagt die Marschallin in Hofmannsthals genialem Text. Keiner rührt sich, niemand sagt was, man hört sogar die Klimaanlage im Zimmer, jemandem fällt die Zeitung hinunter, einer räuspert sich unterdrückt. Genau so im Konzertsaal, Sonntag Vormittag. Der Konzertmeister muss die Stoppuhr dabeihaben, er gibt nach exakt 4’33 (auch im Ordinationsraum kriecht die Zeit und selbst 4 Minuten werden zur kleinen Ewigkeit) das Zeichen „zum Aufhören“. Vorher: ein Einziger sagt im Publikum „Halleluja“ oder so ähnlich. Risiko dabei: es bleibt nicht beim „tacet“, sondern es gibt nach 4’33 ein „non tacet“, nämlich Applaus. Wohltemperiert das crescendo von tacet zu piano. Genau 26 Sekunden lang (ich hab dann auch auf die Uhr geschaut!), dann war der Beifall aus. Eigentlich hätte das Stück diesmal 4,59 heißen müssen.
Cages zweites aufgeführtes Stück: Sixty Eight. Dies wiederum bezieht sich auf die Anzahl der Mitwirkenden: 68! (Erstaufführung im Konzerthaus, dieses Stück ist in Cages‘ Todesjahr 1992 entstanden). Keine Gesamtpartitur, 68 Einzelstimmen, auf 68 Blätter geschrieben. Es gibt 15 einzelne Töne, die in so genannten „Zeitklammern“ angeordnet sind. Diese Töne kommen wie improvisatorisch, mit sozusagen freier Zeiteinteilung. Sie wandern von Instrument zu Instrument, überlappen einander (Reibeflächen mit Tonika, Sekund, Mollterz zum Beispiel), was naturgemäß eine Unzahl von Klangpuzzles ergibt. Wirklich spannend, vor allem, weil man sich in einer Art musikalischer Rätsel-Rallye befindet: Wer entscheidet sich wann für welchen Ton? Aber ganz so un-erhört ist das Ganze nicht! Nach so vier, fünf Minuten beginne ich nachzudenken: Woran erinnern mich diese lang andauernden Töne?? … „Wozzeck“! Da gibt es doch die Invention über den Ton H, diese atemberaubend anschwellende Unisono- Stelle, bevor Wozzeck Marie tötet! 4 Schlagzeuger reichern diese Zeitklammern vielfältigst an. Es tröpfelt, klopft, rumort, schabt, … unaufhörlich. Schließlich ein morendo-Schluss, wie man ihn selten hört. Der letzte Ton, ein E.
Der Applaus, mezzoforte, moderato, klang da schon viel beeindruckter.
In englischer Sprache auch der Titel der Uraufführung des Vormittags: Scattered Light von Johannes Maria Staud. Mit der Besetzung 2 Bassflöten, 1 Klarinette, 1 Bassetthorn, 1 Bassklarinette, 1 Kontrabassklarinette, 2 Hörner, 3 Posaunen, 1 Tube, 4 Schlagwerker, 2 Pianisten und 30 Streicher. Das Werk balanciert mit viel Rubato um ein stabiles Klavier-Schlagzeugzentrum und verbreitet gleißende „Streulicht-Effekte“ (um die deutsche Übersetzung nicht zu vergessen). Hier viel Bewegung, viel Entwicklung, pulsierende Rhythmik, enorme Farbigkeit der Erfindung (wie eigentlich immer bei Staud). Das Werk wurde vom Publikum auch mit großem Beifall samt Bravorufen aufgenommen.
Vor der Pause „Die verklärte Nacht“ in der Fassung für Streichorchester von Arnold Schönberg. Ein Werk, aus der spätesttonalen Zeit des Mittzwanzigers Arnold Schönberg. Er wurde damals prompt verhöhnt, diese Musik klinge, als habe man über die noch nasse „Tristan“-Partitur gewischt. Manches erinnert da an die überschwängliche Tristan-Harmonik, ja sogar momentweise glaubt man, sich in Puccinis „Manon Lescaut“ (dem Orchesterzwischenspiel vor dem Schlussakt) zu befinden. Die Wiener Philharmoniker lieferten hier ein Meisterstück an konkurrenzlosem Streicherklang, spätromantischer Opulenz und einer fabelhaften Bandbreite, klangsinnlich und traumhaft schön.
Nach Schönberg allen eine Sonderovation für Risiko und Schönheit! Die Pultstars werden es aushalten (und meinen boshaften Schlussgedanken verzeihen): An diesem Vormittag hat kein Dirigent „gestört“, das Edelorchester war unter sich und der Genuss dabei war sicht-, hör- und spürbar!
Wien Modern 31 kann sehr spannend werden!
Karl Masek