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WIEN / Akademietheater: ONKEL WANJA

03.11.2012 | Theater


Maertens Ofczarek (Fotos: Barbara Zeininger)

WIEN / Akademietheater des Burgtheaters:
ONKEL WANJA von Anton Tschechow
Premiere: 2. November 2012

Eine Produktion, in der Gert Voss, Michael Maertens und Nicholas Ofczarek miteinander auf der Bühne stehen, gibt es auch in Wien nicht alle Tage. Darum sah man vor der Premiere von Tschechows „Onkel Wanja“ – bei Sprechtheater ungewöhnlich – zahlreiche Leute mit einem Zettelchen „Suche Karte“ vor dem Akademietheater stehen. Wer dann tatsächlich eine ergattert hat, hatte Glück, denn er erlebte wirklich eine außerordentliche Aufführung. Was nicht nur auf das Konto der besonderen und kostbaren Protagonisten ging, sondern auch auf jenes von Burgtheaterdirektor Matthias Hartmann.

Man – sprich exakt: das deutsche Feuilleton – neigt ja dazu, Hartmann als Regisseur zu unterschätzen, weil er so „mätzchenlos“ inszeniert und Stücke im allgemeinen nicht verbiegt (was ihn dann wiederum zum richtigen Mann für Wien macht). Bei Tschechow allerdings zeigte er, was er kann: Man gewann den Eindruck, er habe dieses wunderbare, legendäre Werk (das man schon so oft gesehen hat, im Akademietheater zuletzt vor 20 Jahren mit Michael Heltau in der Titelrolle) erst einmal in Stücke gehauen. Und dann neu zusammen gesetzt. Er hat aus den Figuren Details herausgemeißelt, die man so noch nie gesehen hat, ohne dass sie dabei ihre Glaubwürdigkeit einbüßen. Was so oft als Tschechows melancholische Idylle einer untergehenden Gesellschaft inszeniert wurde, ist bei Hartmann die existenzielle Hölle – das Leben als Jammertal, Menschen, die aus ihrer inneren und äußeren Gefangenschaft nicht entkommen können. Zuletzt befreit mich doch der Tod, heißt es bei Mozart, und das ist ebenso Tschechows wie Hartmanns Resümee. Nach packenden zweidreiviertel Stunden wusste das Publikum, dass es einen nicht alltäglichen Theaterabend erlebt hatte.

Zwischen 1895 bis 1903 hat Tschechow seine vier letzten Stücke geschrieben, jene, die in die Ewigkeit des Theaters eingegangen sind. Der Abgesang des russischen Großbürgertums in vier Varianten, gewiss, aber doch viel mehr. Der „Onkel Wanja“ von 1896 malt Variationen der Verzweiflung – und Hartmann hat sie ganz deutlich nachgepinselt. In einem Bühnenbild von Stéphane Laimé, das nie Realismus bietet (der erste Akt spielt vor den nackten Hinterwänden des Akademietheaters), aber immer wieder Zwischenwände einzieht, die etwas von dem nötigen Raumgefühl geben – ein großes Landhaus im Nirgendwo, das die Menschen einsperrt. Im übrigen besteht der Boden, auf dem alle wandern (gehen, staksen, schreiten, fallen) aus etwa drei Zentimeter hohen Nylonborsten. Eine gewisse Künstlichkeit ist auch hier eingezogen.

Fast meint man, Hartmann inszeniere ein Lehrstück à la Brecht – schon wenn er die Szene des dritten Aktes, als ein völlig hysterischer Wanja auf den Professor schießt, auf den Anfang vorzieht. Diese erhitzte Ton, der hier angeschlagen wird, herrscht von der ersten Minute an – für die angebliche Tschechow’sche Elegie hat dieser Abend, der im heutigen Alltagsgewand spielt (Kostüme: Tina Kloempken) weder Zeit noch Lust.

Wahrscheinlich muss man die Figuren einzeln „durchspielen“, um das Besondere der Interpretationen zu definieren, wobei die „Machtverhältnisse“ durchaus anders gewichtet sind als sonst. Der „arme Wanja“ mag in anderen Inszenierungen durchaus im Hintergrund gestanden haben, hier tut er es nicht: Nicholas Ofczarek ist von Beginn an auf höchste Erregungsstufe geschraubt – er hat sich in die Frau des Professors verliebt, so sehr, dass er sie wirklich aufdringlich bedrängt. Er säuft aus Verzweiflung und in seinem Hassausbruch gegen den Professor tobt er dermaßen, wie es nur ein auch körperlich starker Schauspieler wie Ofczarek vermag. Da ist einer zum Opfer geworden und will es absolut nicht sein. Am Ende flüchtet er in die Arbeit, aber die Trümmer seines Lebens hat er uns hingeworfen – und ist damit gewaltig unter die Haut gegangen.

Wanja verwaltet das Gut seiner Nichte Sonja, und der Professor, ihr Vater, nistet sich schmarotzend bei ihr auf dem Land ein, obwohl er das einsame Leben hier abgrundtief hasst. Dass der alte Mann keine Nebenrolle ist, hat schon mancher große Interpret bewiesen, und Gert Voss tut es wieder mit allem Nachdruck. Da sind nicht nur jene Eitelkeit und Selbstgefälligkeit, die an sich jede Wahrnehmung der Umwelt verstellen, Voss spielt auch die entsetzliche Wut des Mannes, der durch das Alter seiner Bedeutung entkleidet wird – ein Protest, den viele nachvollziehen können (es gab eine Menge einst mächtiger alter Herren im Premierenpublikum, da reicht es wenigstens noch für Ehrenkarten…). Und er genoß auch geradezu das spielerische Element des Manipulators, der zumindest weiß, wie er seine Frau und seine Familie mit seinen ärgerlichen Launen auf Trapp hält. Hinreißend, wie Voss seine Locken warf und seine Hypochondrie ausspielte.

Der dritte Herr im Gefüge des Stücks, der Arzt Astrow, ist oft die heimliche Hauptfigur. Nicht hier. Michael Maertens spielt ihn wahrlich als „tote Seele“, ein müder Mann, der eigentlich nicht mehr Anteil nehmen will, an gar nichts, was Menschen betrifft, selbst sein Werben um die Frau des Professors meint er offensichtlich nicht ernst – nur seine vage Zärtlichkeit für die alte Dienerin glaubt man ihm. Er ist einer der wenigen, der einen genuinen Menschen erkennen und schätzen kann – wie der Professor diese Dienerin scheucht, charakterisiert diesen wiederum. Astrows Leidenschaft gilt der Natur, und man horcht wahrlich auf, wie Tschechow vor kaum 120 Jahren alles aussprach, was die „Grünen“ heute noch vergeblich predigen. Man kennt des Dichters tiefes Gefühl für Verantwortung – einiges hat er in Astrow gepflanzt. Und wenn er von seinen Bäumen spricht, wird Michael Maertens glaubhaft, so wie es sein soll. Im übrigen hat er den Glauben an die Menschen längst verloren.

Der vierte Mann spielt kaum eine Rolle, aber so wie Branko Samarovski am Rande steht, auf der Suche nach einer Berechtigung in dieser Familie, erwirbt er seine Berechtigung in dieser Inszenierung in hohem Maße.


Voss, Peters Frick, Orth

Eine Elena wie jene von Caroline Peters hat man noch nie gesehen. Die wesentlich jüngere (aber doch nicht an sich junge) Gattin des Professors als Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs, mit einer ausgespielten Hektik, Unruhe, Verzweiflung und Langweile, wie sie noch nie so exzessiv ausgereizt wurde. Aber wieso nicht? Ihr alter Mann ist eine Nervensäge, Wanja bedrängt sie auf die unverschämteste, ärgerlichste Weise, und in den Arzt hat sie sich verliebt, ohne es zu wollen – da kann man die Verzweiflung, wie Caroline Peters sie ziseliert, wahrlich nachvollziehen.

Sarah Viktoria Frick spielt die hässliche Sonja, die ein armes Geschöpf und eine schöne Seele ist, auch „anders“ als sonst. Zu Beginn muss man befürchten, dass da wieder eines ihrer armen Hascherl auf der Bühne steht, die sie so nervtötend gut beherrscht, aber diese Sonja lässt durchaus ihre Verzweiflung heraus. Sagt ein paar richtige, harte Worte, wenn sie nötig sind. Leidet entsetzlich, wenn sie ihre Liebe innerlich begraben muss. Nur am Ende, wenn sie ihre Resignation heraus lässt, wird sie weich. Aber sentimental – nein, selbst wenn es den Zuschauer würgt zu begreifen, dass es Menschen gibt, die Tag für Tag auf nichts anderes zuleben als auf den erwarteten Tod. Damit sie ausruhen dürfen – die Körper und die Seelen.

Da ist dann noch die „Mama“, die lächerliche Preziöse und Emanze, die den Professor so unerschütterlich bewundert: Man könnte sie weit lächerlicher machen, als Barbara Petritsch es tut, die eine Art skurriler Würde wahrt, als Figur in sich selbst ruhend.

Und schließlich noch die Perle, die Kostbarkeit des Abends: die alte Dienerin Marina Timofejewna weiß noch, was richtig ist in dieser Welt und was falsch, und wenn man jemandem glaubt, dann Elisabeth Orth, die durchaus nicht als „Alte“ über die Bühne schlurft, aber jenes tiefe Volkswissen in sich zu tragen scheint, das Tschechow an den einfachen Leuten so bewundert hat.

Bewundernswert, wie alle sich hier zusammenfügten zu einer viersätzigen (alle Tschechow-Stücke haben vier Akte, wenn’s keine Einakter sind) Symphonie des verfehlten und verlorenen Lebens. Und nicht einer wirkte, als käme er aus dem Russland des späten 19. Jahrhunderts. Jeder war in seiner Struktur und seinem Leiden als Zeitgenosse erkennbar.

Renate Wagner

 

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