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TALLINN: GROSSES SÄNGER- UND TANZFEST – 4. – 7. JULI 2014

Tallinns großes Sänger- und Tanzfest, 4.-7. Juli 2014

von Ursula Wiegand

Tallinn, Tanzeinlage bei der Prozession
Tallinn, Tanzeinlage bei der Prozession. Foto: Ursula Wiegand

43.107 Sänger, Tänzer und Musiker auf einer endlos erscheinenden Prozession am 5. Juli. Eine fröhliche Riesenschlange mit vielen Menschen in schönen Trachten, traditionellen und in moderner Version. Ganz Tallinn in freudiger Bewegung und starker Applaus für die Teilnehmer im Alter von 6 – 93 Jahren.

Tallinn, mit dem Kinderwagen zur Prozession
Tallinn, mit dem Kinderwagen zur Prozession. Foto: Ursula Wiegand

Einige Frauen und Männer haben ihre Babys im Kinderwagen oder auf dem Arm und gehen so den 5 km langen Weg zur Konzertmuschel. Heiß ist es, gefühlte 35 Grad Celsius. Nur alle 5 Jahre findet dieses historisch bedeutsame Kulturereignis statt, da will und soll niemand fehlen.

Tallinn, Prozession, Kinder  in leuchtenden Farben
Tallinn, Prozession, Kinder in leuchtenden Farben. Foto: Ursula Wiegand

Denn das gemeinsame Singen hat Estland die Freiheit gebracht – kurzzeitig von 1920-40, zuletzt durch die „Singende Revolution“. Nach einer Menschenkette am 23. August 1989 von Tallinn über Riga bis Vilnius – zum 50. Jahrestag des verhängnisvollen Hitler-Stalin-Paktes – sangen die Esten die verbotene Nationalhymne auf dem Sängerfest 1990 erstmals wieder unter ihrer Flagge. Im August 1991 wurde Estland unabhängig.

„Touched by Time – The Time to touch“, war (übersetzt) das Motto dieses 26. Sängerfestes seit 1869. Der erste Teil, eine Reise in 25 Liedern durch die Geschichte der Sängerfeste, wurde von ausgewählten Chören mit 7.000 Sängern dargeboten. Volkslieder, wie „Mein Vaterland, mein Glück und meine Freude“, haben den Zusammenhalt der Esten in den Jahren der Unterdrückung bewahrt.

Neeme Järvi beim Interview
Neeme Järvi beim Interview. Foto: Ursula Wiegand

Zu solchem Patriotismus bekennt sich auch der weltbekannte Dirigent Neeme Järvi. Von 1963 bis 1979 war er musikalischer Direktor des estnischen Radio- und Rundfunk-Symphonieorchesters, emigrierte jedoch 1980 nach sowjetischem Druck in die USA. Seit 1987 ist er amerikanischer Staatsbürger, hat aber als Leiter renommierter Orchester und als Gastdirigent die estnische Musik in Nord- und Südamerika, in Europa und bis nach Japan bekannt gemacht. Das tut er auch hier.

Seit 2010 ist der 77-Jährige Chefdirigent des Estnischen National-Symphonieorchesters und noch immer Gast auf vielen Pulten. Im Interview erwähnt er seine Konzerte mit Bruckners 3. Symphonie Ende März im Wiener Musikverein und im Brucknerhaus Linz. Hier in Tallinn dirigiert er an beiden Festtagen. Warum?

„Ich bin Este und liebe mein Land, das so viele Jahrhunderte von Fremden beherrscht wurde. Wir haben dabei sogar unsere Sprache verloren, denn diese und estnische Familiennamen waren verboten. Über einfache Lieder haben wir sie vor 150 Jahren nach und nach zurück gewonnen. Die Kinder lernen sie in den Schulen, 2 Millionen sprechen nun estnisch. Und wir haben wir uns frei gesungen!“ betont er.

Tallinn, Sängerfest, Neeme Järvi dirigiert
Tallinn, Sängerfest, Neeme Järvi dirigiert. Foto: Ursula Wiegand

Später dirigierte er mit ruhigen eindringlichen Gesten das Symphonische Gedicht „Mitsommerabend“, komponiert 1965 von Mihkel Lüdig. Der Applaus prasselt. Tags darauf, bei einem Extrakt aus der 2. Symphonie von Villem Kapp (1913-1964), wird Neeme Järvi erneut gefeiert. 25 Orchester mit 763 Musikern sind ihm perfekt gefolgt und haben großartig gespielt.

 

Kristiina Ehin, Dichterin und Texterin
Kristiina Ehin, Dichterin und Texterin. Foto: Ursula Wiegand

An diesem 2. Tag, einem Sonntag, gab es auch neue Songs, so für die Kinderchöre mit ihren herrlich hellen Stimmen. Erstaunlicherweise schreiben selbst junge estnische Komponisten sehr melodische, leicht erlernbare Lieder, und gerne zu den poetischen Texten der Dichterin Kristiina Ehin.

Tallinn, Sängerfest, singend zum Auftritt
Tallinn, Sängerfest, singend zum Auftritt. Foto: Ursula Wiegand

Gesungen wurde von allen nur in der Landessprache. Mit dem Kanon „Bruder Jakob“ auf Estnisch zogen die Chöre, darunter welche aus Kanada und Australien sowie ein deutsch-lettischer Chor aus Aachen, zu ihrem Auftritt in die Arena. Sich für Tallinns großes Sängerfest zu qualifizieren, ist eine Herausforderung, und die Einladung zur Teilnahme gleicht einem Ritterschlag.

Tallinn, über 21.000 Sänger in der Konzertmuschel, Ausschnitt
Tallinn, über 21.000 Sänger in der Konzertmuschel, Ausschnitt. Foto: Ursula Wiegand

Zahlenrekorde sind auch zu vermelden. Der Kleinkinderchor vereinigte 7.428 singende Menschlein, ein Zusammenschluss von 91 Orchestern brachte 2.500 Musiker in die Konzertmuschel. Die fasste zum Schluss sogar 659 Chöre mit 21.225 dicht gedrängten Sängerinnen und Sängern!

Tallinn, Sängerfest, Dirigentin Triin Koch 
Tallinn, Sängerfest, Dirigentin Triin Koch. Foto: Ursula Wiegand

Wie Popstars bejubelten die Teilnehmer und das Publikum die Dirigenten, die diese Massen klangschön bändigten. Die Dirigentin Triin Koch wurde besonders lautstark belobigt. Bei bekannten Songs stimmten die Zuhörer mit ein. Als meine Nachbarin auf die estnischen Verse im Programmheft deutete, habe auch ich mitgesungen, denn die Melodie ging sofort ins Ohr. Mehrmals haben wir uns auch ein Da capo erklatscht. Euphorische Energie und Gänsehautgefühl gepaart mit friedlicher Volksfeststimmung – ein unglaublich emotionales Erlebnis.

Tallinn, Tanzfest im Kalev-Stadion
Tallinn, Tanzfest im Kalev-Stadion. Foto: Ursula Wiegand

Eine ähnliche Hochstimmung herrschte beim gleichzeitigen 19. Tanzfest im Kalev-Stadion. 10.082 Tänzerinnen und Tänzer in traditionellen und modernen Choreographien boten an drei Tagen eine gekonnt arrangierte Farbsymphonie, im Bewegungsablauf beeindruckende Muster bildend.

Die „Kindheit daheim“, „In der grauen Welt“ und „Wieder zu Hause“ wurden von jung und alt überzeugend interpretiert. Der Tanz weiß gekleideter Frauen, die mit schwarzen plissierten Tüchern immer neue Bilder boten, erntete besonderen Beifall. Ovationen schließlich beim Schlussbild mit allen Tanzenden.

Tallinn, Tanzfest, Schwarz-Weiß-Choreographie
Tallinn, Tanzfest, Schwarz-Weiß-Choreographie. Foto: Ursula Wiegand

Summa summarum machten die Sänger und Tänzer 153.000 Besucher glücklich. Müssen diese in der Welterbe-Altstadt und zu Füßen der St. Olaikirche lange Zeit auf ein Gesamt-Da capo warten? Nicht wirklich.

Tallinn, Altstadt und St. Olaikirche
Tallinn, Altstadt und St. Olaikirche. Foto: Ursula Wiegand

Seit 1964 gibt es wegen der überaus zahlreichen Kinder- und Jugendchöre, die bei dem großen Fest nicht berücksichtigt werden können, noch eine zusätzliche Veranstaltung: das Jugend Sänger- und Tanzfest. Das nächste mit vermutlich 25.000 Teilnehmern läuft in Tallinn vom 30. Juni bis 2. Juli 2017. Dieses zu besuchen, lohnt sich sicherlich ebenfalls. (Siehe unter http://laulupidu.ee/english ).

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