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STUTTGART/Evangelische Kirche Gaisburg: SWR-VOKALENSEMBLE mit „geschwungenen Melodienbögen“

WEIT GESCHWUNGENE MELODIEBÖGEN

SWR Vokalensemble in der evangelischen Kirche Stuttgart-Gaisburg am 22. März 2012

Leonhard Lechner war einer der wichtigsten Vertreter der noch jungen protestantischen Kirchenmusik im 16. Jahrhundert. Leider wurde er von der Inquisition verfolgt und hatte ein schweres Leben. Unter der einfühlsamen Leitung seines Chefdirigenten Marcus Creed interpretierte das exzellente SWR Vokalensemble „Das Hohelied Salomonis“ für vierstimmigen gemischten Chor von Leonhard Lechner mit rhythmischem Feinschliff und voluminösem Ausdruck. Der Einfluss Claudio Monteverdis war hier immer wieder spürbar. Die rastlosen Wechselnoten nahmen die vergebliche Suche nach dem Geliebten im zweiten Teil vorweg. Anmutig geschwungene Melodiebögen zeichneten die Linie des weiblichen Halses nach. Musikalische Präsenz und Bildhaftigkeit prägten alle sechs Strophen, die nahtlos ineinander übergingen. Poetische Spannungskraft prägte diese intensive Wiedergabe. Anschließend folgte von Hans Zender als Uraufführung „Por que?/Warum?“ für gemischten Chor a cappella. Glissando-Phrasen und Mikrotonalität fielen hier besonders eindringlich auf. Intervalle schufen eine geradezu elektrisierende Spannung. Der „Canto espiritual“ des spanischen Dichters und Karmelitermönchs Johannes vom Kreuz, den Hans Zender kunstvoll vertonte, wird oft in einem Atemzug mit dem Hohelied Salomonis genannt. Hinter diesem Zwiegespräch zweier Liebender lässt sich die existentielle Gotteserfahrung begreifen. Das SWR Vokalensemble brillierte dabei mit einer ausgezeichneten gesanglichen Leistung. Naturtöne waren zwischen den einzelnen Terzen wiederholt in geheimnisvoller Weise herauszuhören. Assoziationen weckt Zender bei diesem vielschichtigen Werk zu seiner 1998 uraufgeführten Hohelied-Vertonung Shir Hashirim für Soli, Chor, Orchester und Live-Elektronik. Es ist der Beginn einer neuen Harmonik, die heute sein Schaffen bestimmt. Hans Zender arbeitet nicht nur mit temperierten Halbtönen, sondern auch mit dynamisch fein differenzierten Zusammenklängen, die auf den natürlichen Schwingungsverhältnissen der Obertöne beruhen. Wie konzentriert sich diese spektralen Akkorde über wechselnden Grundtönen entwickeln, machte das emotional agierende SWR Vokalensemble Stuttgart unter der intensiven Leitung von Marcus Creed hervorragend deutlich. Die Frage nach dem „Warum“ des Leidens erfuhr so eine bewegende Antwort. Der in zwei Gruppen eingeteilte Chor beantwortete diese Fragen drängend in zwei alternierenden Blöcken. Das leise Flehen glitt fast ins Tonlose ab. Das gelang dem Ensemble klanglich ungemein eindrucksvoll. Einflüsse von Bartok, Zimmermann, Boulez und Webern wurden ebenso deutlich. Die Eindeutigkeit der Form wurde vom SWR Vokalensemble Stuttgart immer wieder aus den Angeln gehoben. Dieses Prinzip erinnerte auch an die „offene Form“ der 50er und 60er Jahre. Die Flexibilität der Zeitabläufe bestimmen den Kompositionsprozess, der immer in fließender Bewegung ist. Das SWR Vokalensemble Stuttgart vermochte vor allem diesen fließenden Bewegungen nuancenreichen Ausdruck zu verleihen. Rhythmik, Dynamik und Tonhöhenlage ergänzten sich in feinster Abstimmung. So erfuhren Klangfarbentechnik und Mikrointervalle ständig neue Veränderungen, was spannungsvoll anzuhören war. Hans Zender wurde auch als Dirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Saarbrücken sehr bekannt, seine Oper „Stephen Climax“ erregte Aufsehen. „Liebe“ op. 18 von Peter Cornelius für 6-8stimmigen gemischten Chor a cappella war dann ein weiterer klanglicher Höhepunkt dieses Konzertabends, bei dem das SWR Vokalensemble Stuttgart ganz aus sich herausging. Homophone Geschlossenheit zeichnete diese Wiedergabe unter der subtilen Leitung von Marcus Creed aus. Das „Grab der Sterblichkeit“ wurde von Cornelius in leere Quinten getaucht, was fast schon gespenstisch wirkte. Dialogische Strukturen schuf vor allem die Frauengruppe, die sich zu emotionaler hymnischer Strahlkraft aufschwang. Die Bitte um Einlass an der Herzenspforte geriet zu einem akustischen Höhepunkt. Glaube und Sinnlichkeit wurden hierbei musikalisch sehr gut erfasst. Die durchkomponierte Form war deutlich herauszuhören, das gleiche galt für die empfindungswarme Lyrik und die reichen kontrapunktischen Formen. Marcus Creed beschwor bei dieser wunderbaren Wiedergabe einen intensiven, fast schon mystisch strahlenden Klangzauber. „Gold“ (2006/13) als drei Stücke für gemischten Chor a cappella ist eine Vertonung eines lyrischen Textes des 1929 verstorbenen Autors Arno Holz, der als zügelloser Schreiber galt. Der Komponist Enno Poppe hat hier ganze Arbeit geleistet. Dem ersten Satz „Moderne Walpurgisnacht“ liegt ein Text aus dem experimentellen Drama „Die Blechschmiede“ zugrunde. Wie in einer Hexenküche werden deswegen Begriffe wie  „Methodik“, „Systematik“ und „Taktik“ wild durcheinandergewürfelt. Die instrumentale Konzeption fällt dabei besonders auf. Sie wurde vom Chor differenziert umgesetzt. „Bluttanz“, „Mummenschanz“ oder „Meucheln“ verursachen als semantische Einwürfe zahlreiche akustische Überraschungen. Besonders reizvoll wirkte der Wechsel zwischen Solo und Tutti. Polyphone Passagen wechselten sich mit flächigen Texturen beim dritten Teil „Notturno“ mit 24 Stimmen ab. Reizvoll ist auch der zweistimmige lyrische Mittelsatz mit dem Titel „Silber“, der den Sängerinnen und Sängern reiche Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Kleine Glissandobewegungen schaffen eine zauberhafte Atmosphäre. Wechselnoten rufen den Eindruck von Wellenbewegungen hervor, die sich immer mehr verdichten. Es ist ein trotz allem empfindungsvolles Stück, das der menschlichen Stimme neue Ausdrucksmöglichkeiten bietet. 

 Alexander Walther

 

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