„Elektra“ von Richard Strauss als Wiederaufnahme in der Staatsoper Stuttgart
EXPLOSIV BIS ZUM SCHLUSS
Rebecca Teem, Simone Schneider. Copyright: Martin Sigmund
Strauss‘ „Elektra“ als Wiederaufnahme in der Staatsoper am 22. Januar 2017/STUTTGART
Sie gilt als Bindeglied zwischen Wagners „Tristan“ und Bergs „Wozzek“. Die einaktige Oper „Elektra“ ist wahrscheinlich noch kühner und revolutionärer wie Richard Strauss‘ erster Opernschocker „Salome“, über den sich Kaiser Wilhelm II. so echauffierte. Peter Konwitschny entfernt die Stummfilm- und Fin-de-siecle-Atmophäre aus seinem Konzept. Auch von expressionistischen Assoziationen ist wenig zu spüren. Vielmehr entsteht bei seiner spannungsgeladenen Inszenierung mit dem Bühnenbild und den Kostümen von Hans-Joachim Schlieker (Video: Signe Krogh) eine zeitlose Familientragödie, die es wirklich in sich hat.
Das zeigt sich gleich am Anfang, wenn König Agamemnon liebevoll mit seinen Kindern spielt und auf offener Bühne vor einem Spiegelhintergrund in seinem Bad von Schergen brutal erschlagen wird. Der Spiegel wird schließlich zusammengeklappt und gibt den Blick auf ein modernes Wohnzimmer mit eleganten Sesseln frei. Im Hintergrund sieht man einen überdimensionalen Himmel mit riesigen elektronischen Zeigern wie von einer Uhr. Der Vater Agamemnon scheint bei der Begegnung von Elektra und ihrer Mutter Klytämnestra von den Toten aufzustehen, er bewegt sich in gespenstischer Weise auf Klytämnestra zu, was Elektras Triumph über die verhasste Mutter nur noch mehr anstachelt. Da ist die Luft bis zum Zerreissen gespannt. Auch die Eröffnungsszene mit dem berühmten Klagegesang der Elektra hat es in sich, die Sopranistin Rebecca Teem bietet hier nicht nur stimmlich, sondern auch darstellerisch eine packende und erschütternde Gesamtleistung. Doris Soffels Klytämnestra überrascht immer wieder mit glühenden, aber ebenmäßigen Kantilenen und einem leuchtkräftigen Timbre. Das ist eine gute Ergänzung zu den messerscharfen Spitzentönen von Rebecca Teems Elektra, die ihrer Mutter in einem wilden Gemenge von Licht und Nacht immer mehr zusetzt. Der Wille zum Fanatismus zeigt sich nicht nur, wenn Elektra das Beil schwingt. Bei der Erkennungsszene von Elektra und ihrem Bruder Orest verlangt Konwitschny den Sängern ein Höchstmaß an gesanglicher Transparenz und schauspielerischer Perfektion ab. Das Alptraumhafte steigert sich wenig später bei der Erschießung Klytämnestras, wenn Elektra mit einem Beil in grausiger Weise nachhilft.
Rebecca Teem (Elektra), Bernhard Conrad (Agamemnon). Copyright: Martin Sigmund
Im Hintergrund ist zuletzt ein ungeheures Feuerwerk zu sehen, das mit der Musik in geheimnisvoller Weise korrespondiert. Die Menge wird mit Maschinengewehren vernichtet, auch Elektra treffen tödliche Schüsse, sie kann ihren mänadenhaften Tanz gar nicht mehr vollenden, sondern liegt halbtot am Boden. Schließlich stirbt sie.
Ulf Schirmer, Generalmusikdirektor der Oper Leipzig, kann den orgiastischen Hexensabbat von Leitmotiven mit dem Staatsorchester Stuttgart in seiner ganzen ungeheuren Wucht erfassen. Dies zeigt sich schon beim Beginn, wenn das viertönige Motiv in seiner Zweiteilung wie ein Orkan über die Zuhörer hereinbricht. Die Bedeutungszuweisung in der Mägdeszene gelingt bei dieser Aufführung in hervorragender Weise, wobei man erwähnen muss, dass hier bei allen Mägden Rollendebüts vorliegen. Stine Marie Fischer, Josy Santos, Maria Theresa Ullrich, Esther Dierkes und Mandy Fredrich lösen ihre Aufgaben bravourös. Auch sie agieren darstellerisch überdurchschnittlich bühnenwirksam. Rebecca Teem kann dann bei ihrem kämpferisch gestalteten Monolog „Allein! Weh, ganz allein“ die aufgeheizte Stimmung beim dissonanten „Hass“-Akkord noch weiter zuspitzen. Sehr schön gelingen ihr aber auch die lyrischen Kantilenen der Kindesliebe. Die Vision der Rache deutet den triumphalen Tanz an. Die äussersten Grenzen der Harmonik und psychischen Polyphonie offenbaren sich im fieberhaften Schlagabtausch von Rebecca Teem und Doris Soffel bei der Begegnung von Elektra und Klytämnestra: „Was bluten muss? Dein eigenes Genick…“ Doris Soffel gelingt es, das Aufbegehren der von Dämonen gepeinigten Königin in bewegender Weise zu gestalten. Hier erreicht die Inszenierung auch musikalisch unvergessliche Höhepunkte. Simone Schneider zeigt als Elektras Schwester Chrysothemis ebenfalls eine hervorragende gesangliche Leistung.
Bernhard Conrad (Agamemnon), Doris Soffel (Klytämnestra. Copyright: Martin Sigmund
Ulf Schirmer lässt als Dirigent die einzelnen Akzente grell deutlich werden. So prägt sich das Sprung-Motiv beim Zurückweichen Elektras in ihren Schlupfwinkel ebenso ein wie das scharf umrissene Beilmotiv: „Sausend fällt das Beil.“ Auch das Hervorheben thematischer Mittelstimmen vernachlässigt Ulf Schirmer als Dirigent des ausgezeichnet musizierenden Staatsorchesters Stuttgart nicht, wobei ihm die übrigen Sängerinnen und Sänger immer wieder eine große Hilfe sind. Dies gilt ebenso für den stimmlich sehr ebenmäßigen und engagierten Thorsten Hofmann als Aegisth als auch für den emotional ungemein reifen Orest von Shigeo Ishino. Sebastian Bollacher als Pfleger des Orest und Anna Matyuschenko als Vertraute sowie Brigitte Czerny als Schleppträgerin tragen zu diesem bezwingenden Gesamteindruck entscheidend bei. Alexander Efanov (junger Diener), Daniel Kaleta (alter Diener) und Catriona Smith (Aufseherin) ergänzen das Ensemble passend. Bernhard Conrad mimt Agamemnon ebenso intensiv-plastisch wie Anastasija Harms Elektra als Kind. Lorna Treuer ist Chrysothemis als Kind, Kazuma Wong spielt Orest als Kind. Als Leibwächterinnen der Klytämnestra fungieren eindringlich Natasha Feustel und Ilse Rucki.
Johannes Knecht hat den Chor der Staatsoper Stuttgart wieder souverän und mit umsichtiger Vielgestaltigkeit einstudiert. Das passt sich dem Klangfarbenreichtum der musikalisch monumentalen Gestaltungsweise an. Ulf Schirmer legt weniger auf den kammermusikalischen Gehalt der Partitur Wert. Statt dessen interessieren ihn immer wieder die unheimlichen Zwischentöne, die sich zu einem polyphonen Orkan ungeheuren Ausmaßes ausweiten. Richard Strauss wird so zum absoluten Musiker. Das Geflecht der Motive kann gut verstanden werden. Peter Konwitschny hat „Elektra“ als musikalisches Psychodrama ersten Ranges jedenfalls voll erfasst. Selbst manche szenische Schwäche wird dadurch geschickt kompensiert. Er hat eindeutig einen tiefenpsychologischen Ansatz für seine glutvolle Inszenierung gewählt. Die harte Ausdrucksskala der „Elektra“ findet im abstrakten Bühnenbild ihre Entsprechung. Zuweilen agieren die Protagonisten sogar reflexartig. Auch der „Horror“-Effekt bei der Wiederauferstehung des ermordeten Vaters Agamemnon tritt hier drastisch in den Vordergrund. Die riesige Spiegelwand zu Beginn teilt sich schließlich wie ein Tor. Man sieht dann ein Wohnzimmer aus den 70er Jahren. Das Publikum öffnet hier die Tore und sieht irgendwie in sein eigenes Wohnzimmer. Es ist wohl eine Verlängerung des Mythos in unserem Leben. Und die Wolken auf den Rückwänden verdeutlichen eine „Wetterlage“, die einen verdoppelnden Charakter hat. Und wenn das Gewitter in der Familie tobt, gibt es tatsächlich ein Gewitter. Die Uhr im Himmel läuft rückwärts. Sie zählt den Countdown bis zum Tod der Mutter. Bei der Geschichte des Orest spielt der Erzieher eine wichtige Rolle, das ist neu. Er ist kein alter seniler Mann, sondern ein Repräsentant des kalten Systems. Zuletzt wird an einen gewaltigen Krieg mit Säuberungswellen wie im Kosovo erinnert. Elektra und Orest haben ein undurchdringliches Trauma. Eine Vernichtungsmaschinerie setzt sich gegen Ende der Inszenierung unaufhaltsam in Gang. Da besitzt Konwitschnys Inszenierung eine große Konsequenz. Man ist als Zuschauer tatsächlich geschockt. Beim Feuerwerk entstehen sogar faschistische Assoziationen. Doris Soffel gelingt es als Klytämnestra aufgrund ihrer berührenden Darstellungsweise, dass man plötzlich Mitleid mit dieser Königin bekommt, die sich ihr Schicksal selbst eingebrockt hat. Zuletzt gab es Ovationen für alle Beteiligten.
Alexander Walther