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STUTTGART: WUNDERZAICHEN von Mark Andre, Uraufführung

02.03.2014 | KRITIKEN, Oper

STAATSIOER STUTTGART: Uraufführung „Wunderzaichen“ am 2.3.2014

REUCHLINS SEELE WANDELT DURCH DEN FLUGHAFEN

Die von den Spektralisten beeinflusste Oper „Wunderzaichen“ von Mark Andre knüpft an das Wirken Reuchlins an und schickt hier den Gelehrten Johannes auf einen „metaphysischen Roadtrip“. Die Sprechrolle des Johannes wird in der Regie von Jossi Wieler und Sergio Morabito subtil dargestellt von Andre Jung.

Zentraler Schauplatz des differenzierten Geschehens ist der Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv, wo eine Gruppe Reisender auf die Einreise wartet. Die Überprüfung der Ausweise durch die Beamten löst in Johannes vielschichtge Reflexionen aus, denn seit einer Transplantation schlägt ein fremdes Herz in seiner Brust. Er landet auf der Polizeiwache, wo vor ihm bereits Maria verhört wurde. Der Polizist verweigert Johannes die Einreise ins Gelobte Land. Er und Maria (höchst virtuos: Claudia Barainsky) dürfen die Polizeiwache dann jedoch verlassen. Im Flughafenrestaurant erleidet Johannes plötzlich einen Herzinfarkt und stirbt. Losgelöst von seinem Körper beobachtet er das Geschehen und steigert sich in eine Auferstehungs-Ekstase hinein. Gerne würde er mit Maria sprechen, doch sie bittet den Toten, sie nicht anzurühren. Das Ganze endet im sphärenhaften Himmel – beziehungsweise in der Aufforderung durch das Flughafenpersonal, das Passagierflugzeug zu betreten, denn es steht zum Abflug bereit.

Reales und Irreales verflechten sich äusserst kunstvoll. Die Regie lässt das Bühnenbild irgendwie immer größer und überdimensionaler werden. Man spürt: Diese Passagiere sind in sich selbst gefangen. Der Titel dieses Werkes ist inspiriert von Johann Wolfgang von Goethe: „Wer will sich mit ihm vergleichen, zu seiner Zeit ein Wunderzeichen„. So urteilte er über den 1522 in Stuttgart gestorbenen Humanisten Johannes Reuchlin, der aus Pforzheim stammte und sich zeitlebens für die jüdischen Schriften einsetzte, was ihn bei der kirchlichen Inquisition in Misskredit brachte.

Ein wahres Wunder leistet bei dieser Produktion der ausgezeichnete Staatsopernchor, der immer wieder über sich selbst hinauswächst und den Gipfel theatralischer Vokalität erklimmt. Einflüsse von Morton Feldman, Luigi Nono und Mark Andres Lehrer Helmut Lachenmann sind deutlich hörbar. Die Techniken des musikalischen Strukturierens werden hier auf die Spitze getrieben. Mark Andre entwickelt Lachenmanns „Polyphonie von Anordnungen“ aber konsequent weiter. Das Werk lebt von der Spannung zwischen Klang, Stille, Geräusch, Harmonie, Bewegung, Stasis, Wirklichkeit und Metaphysik. Grundlage sind für Mark Andre die „akustischen Fotografien“, die der Komponist bei einer Israel-Reise in der Grabeskirche in Jerusalem aufgenommen hat. So werden unerhörte „Klangzwischenräume“eröffnet, die der von Johannes Knecht einfühlsam einstudierte Staatsopernchor souverän ausfüllt.

Mit bewundernswerter Akribie hält der Dirigent Sylvain Cambreling das Staatsorchester Stuttgart im Gleichgewicht, dynamische Kontraste werden bis zu extremen Grenzen ausgekostet. Verfremdete Spieltechniken der Streicher korrespondieren mit raffinierten Schall- und Hall-Effekten. Die Live-Elektronik wurde übrigens in Koproduktion mit dem Experimentalstudio des SWR entwickelt, mit dem Mark Andre seit vielen Jahren zusammenarbeitet. Chor und Protagonisten agieren hier auch immer wieder in Zeitlupe. Das Bühnenbild von Anna Viebrock ist zweigeteilt, zeigt einerseits den riesigen Flughafen mit den vielen Passagieren und andererseits ein unterirdisches Polizeipräsidium. Ostinato-Sequenzen wechseln sich mit Passagen ab, die deutlich an Alban Berg und die Zwölftontechnik erinnern. Das Übereinandertürmen der verschiedenen Stimmen gelingt Sylvain Cambreling mit Chor und Orchester wirklich meisterhaft – man scheint permanent durch den Weltraum zu schweben. Rhythmische und klangliche Feinheiten ergänzen sich gegenseitig in suggestiver Weise. Semantische Grundlagen korrespondieren mit retrospektiven Linien, die sich immer weiter aufzufächern scheinen. Verzicht auf Komplexität in Struktur und Form findet stellenweise aber auch statt. Die serielle Technik überrascht hier immer wieder das Ohr. Das Hören der Stille spielt eine zentrale Rolle, die den Zuhörer nicht mehr loslässt. Reuchlins Seele wandelt durch den Flughafen. 24 Vokalsolisten werden im Raum verteilt und noch einmal sortiert in sechs Gruppen mit vier Sängern, von denen je drei Gruppen auf der Bühne und drei im Saal singen. Knister-, Wasser- und Windgeräusche ergänzen das akustische Geschehen eindrucksvoll. In diesem dramaturgischen Konzept gibt es kaum Schwachstellen. Alles wächst zusammen, wird zum fließenden Klangkosmos. Alufolie und Windräder schaffen eine Situation, in der es kein Ende gibt. Die vier komplexen Situationen der Oper sind durch Zwischenmusiken miteinander verbunden. Es sind elektronisch bearbeitete Aufnahmen des „metaphysischen Roadtrips“ mit Klangsituationen aus Kapernaum, der Wüste und Jerusalem. Die gesamte Klangwelt kreist um den Ton „d“.
Claudia Barainsky schwingt sich als Maria in eine beeindruckende dreifache E-Höhe. In weiteren Rollen fesseln Matthias Klink als Polizist und Erzengel sowie Kora Pavelic als erste und Maria Theresa Ullrich als zweite Beamtin. Die triolisch rhythmisierten Äusserungen der Beamtinnen geraten zuweilen aus dem Takt. Das ist akustisch reizvoll und durchaus neuartig. Nach Reuchlins Tod scheint man einen Mahler-Trauermarsch sowie die Luftgeräusche eines aus Blasinstrumenten gebildeten Bühnenorchesters zu hören. Dieses insgesamt überzeugende Auftragswerk der Staatsoper Stuttgart wird unterstützt von der Ernst von Siemens-Musikstiftung, dem Goethe-Institut Tel Aviv, dem Wissenschaftskolleg zu Berlin und Stefan von Holtzbrinck.

 Alexander Walther

 

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