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STUTTGART/ Studiotheater: GIFT von Lot Vekemans – ein verlorenes Kind. Premiere

08.05.2015 | Theater

Premiere „Gift“ im Studiotheater Stuttgart: EIN VERLORENES KIND

Premiere von Lot Vekemans‘ Stück „Gift. Eine Ehegeschichte“ am 7. Mai 2015 im Studiotheater/STUTTGART
 
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Barbara von Münchhausen. Copyright: Daniela Aldinger

Das suggestive Theaterstück „Gift“ der niederländischen Autorin Lot Vekemans erzählt von zwei Menschen, die ein Kind verloren haben, dann sich selbst und dann einander. Barbara von Münchhausen spielt virtuos die Frau, Sebastian Schäfer mit starkem Ausdruck den Mann, der über dieses Thema sehr zum Leidwesen seiner Ex-Frau ein Buch geschrieben hat. Die Regie von Denis Kundic überzeugt in der schlichten Ausstattung von Anne Brügel mit einer nach hinten sich verengenden viereckigen Architektur mit einfachem Mobiliar. Zehn Jahre, nachdem der Mann seine Ex-Frau am Silvesterabend 1999 verlassen hatte, treffen sich beide in der Halle jenes Friedhofes wieder, auf dem ihr Sohn begraben liegt. Zunächst denkt man sogar an Samuel Becketts „Warten auf Godot“, denn die beteiligten Personen scheinen nicht zu kommen. Der Mann flüchtete aufgrund dieser schrecklichen Ereignisse nach Frankreich, um ein neues Leben mit seiner jetzigen Frau Valery zu beginnen. Auf der anderen Seite stellt die Ex-Frau fest: „Ich bin sehr froh, dass du da bist“. Aber sie rebelliert auch heftig gegen das entstandene Buch über den gemeinsamen Lebensweg und den Tod des Sohnes: „Ich will es nicht wissen! Von uns? Wie kommst du dazu?!“ Sie lebt weiter trostlos in den Ruinen der Vergangenheit, aus der sie sich nicht befreien kann. Und sie spottet eifersüchtig über die „frische junge Französin“ als jetzige Frau ihres Ex-Mannes. Deswegen kommt es sogar zu Tätlichkeiten: „Fass‘ mich nicht an!“ Hemmungslos gibt sie sich ihrer grenzenlosen Verzweiflung hin, was Barbara von Münchhausen sehr gut zum Ausdruck bringt: „Ich hasse Glück…“ Die dramaturgische Steigerungskurve lässt sich bei dieser Inszenierung nicht aufhalten, die beiden Darsteller werden von ihr wie in einem unaufhörlich-rasanten Strom mitgerissen. Plötzlich erfolgt ein Schnitt – der Mann will die Frau verlassen. Aber sein Auto springt nicht an, weil er psychisch nicht die Kraft zur Abfahrt besitzt. Und so kommt er zurück – der gnadenlose Geschlechterkampf im Stil Strindbergs beginnt von neuem. Und diesmal wird es noch heftiger: Jetzt ist nämlich Gift in den Friedhofboden eingetreten und hat die Erde kontaminiert.

Das Programmheft unterstreicht die Intention dieser bemerkenswerten Inszenierung, die mit wenigen Stilmitteln auskommt. Angesichts dieser bestürzenden Ehegeschichte wird sogar Fjodor Dostojewskijs „Die Brüder Karamasow“ zitiert: „Um mein Söhnchen ist es mir leid, Väterchen, er war ein Dreijähriger, nur drei Monate noch, und er hätte ein Jährchen gehabt. Über mein Söhnchen quäle ich mich…“ Und um den von einem Auto überfahrenen Sohn quälen sich auch die beiden Eltern in Lot Vekemans‘ Stück in erschütternder Weise: „Ich will hier weg!“ Die Gebeine des Sohnes müssen umgebettet werden und mit der bevorstehenden Öffnung des Grabes brechen alte Wunden wieder auf. Vor allem: Die Aufarbeitung will dem Ex-Ehepaar partout nicht gelingen. Das bringen die beiden klug agierenden Schauspieler am besten auf die Bühne. Es wird so keinen Augenblick langweilig. „Du spielst doch jetzt nicht den Beleidigten?“ fragt sie ihren Ex-Mann unverhohlen und reizt ihn mit fotografischen Gesten. Sie gesteht ihm, aus Kummer hilfloses Opfer ihrer Tablettensucht geworden zu sein. „Du hasst mich“, lautet ihr Vorwurf, der sich von ihm trotz Gegenwehr nicht entkräften lässt. Der Schmerz über den Verlust des Kindes und die dadurch erfolgte Trennung bohrt sich immer tiefer in die Psyche dieses Paares, obwohl er ihr schließlich Wein und Käse anbietet. Auf der anderen Seite erkennt er auch ihre positiven Seiten: „Ich bin froh, dass ich das Bild von dir wiederhabe, wenn du lachst“. Zuletzt will er sie nach Hause begleiten, was sie aber kategorisch ablehnt. Sie will nur von ihm festgehalten werden, was er auch tut. Dadurch ist die schwierige und verfahrene Situation am Schluss gerettet. Ein versöhnliches Ende tröstet das Publikum über die Schwierigkeiten dieses Stückes hinweg, das von einer missglückten Trauerarbeit erzählt. Die beiden Protagonisten können mit dem schweren Schicksalsschlag eigentlich nicht umgehen. Man kann hier weder vor der Ohnmacht flüchten noch sein Schicksal vergessen. Beide sind rettungslos in sich selbst gefangen und können sich einander nicht öffnen. Das kommt bei der Inszenierung überzeugend zum Vorschein. Die Zeit heilt dabei nicht alle Wunden. Beide drohen im Schmerz zu versinken – bis ihr Zusammenfinden im Gegensatz zu Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ doch noch gelingt. Grenzen werden aufgrund der Menschlichkeit der Figuren überwunden. „Ich will, dass du mir sagst, dass alles gut wird“, fordert die Frau ultimativ. Und auch wenn das letztendlich nicht gelingen kann, erscheint doch ein Lichtstrahl am Horizont. Musik von Gustav Mahler und Philip Glass wird hierbei mit Songs von Uri Caine („Now will the sun rise as brightly“) und Wendy Sutter („Song IV“, „Song VI“) stilvoll vermischt. Die Übersetzung besorgten Eva Pieper und Alexandra Schmiedebach. 2012 wurde „Gift. Eine Ehegeschichte“ zu den Autorentheatertagen am Deutschen Theater Berlin eingeladen. Für die beiden Schauspieler gab es begeisterten Schlussapplaus des Premierenpublikums. Gefördert wird die Inszenierung von der Stadt Stuttgart und dem Wissenschaftsministerium Baden-Württemberg.

 
Alexander Walther

 

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