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STUTTGART/ Staatsoper: SIEGFRIED – „Ein Stacheldraht als drohende Grenze“. Wiederaufnahme

23.03.2014 | KRITIKEN, Oper

STUTTGART: EIN STACHELDRAHT ALS DROHENDE GRENZE

Bejubelte Wiederaufnahme von Richard Wagners „Siegfried“ am 23. März in der Staatsoper Stuttgart 

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Daniel Brenna (Siegfried) und Wolfgang Ablinger-Sperrhacke (Mime). Foto: A.T.Schaefer

Vielleicht ist der „Siegfried“ rein musikalisch sogar der modernste Teil von Wagners „Ring des Nibelungen“. Nicht nur die chromatischen Spitzfindigkeiten und die „Angstmusik“ Mimes bei Erscheinen des Wanderers werden von Marc Soustrot und dem fulminant musizierenden Staatsorchester Stuttgart aufwühlend und facettenreich zugleich herausgearbeitet. Die beiden Regisseure Jossi Wieler und Sergio Morabito haben bei ihrer Inszenierung die moderne Welt jedenfalls in den Mittelpunkt gerückt. Mimes Höhle im ersten Akt ist zu einem Hinterhofhaus-Ambiente geworden, wo sich der von Daniel Brenna leuchtkräftig verkörperte Siegfried so richtig austoben kann. Auf ironische Momente haben die Regisseure bewusst nicht verzichtet. Von Anfang an ist der mit schlanker Stimmführung agierende Wolfgang Ablinger-Sperrhacke als Mime ein scharfer Gegenspieler Siegfrieds und wird von diesem immer wieder barsch in die Schranken verwiesen. Der Pubertätskonflikt zwischen Vater und Sohn eskaliert. Das entbehrt keineswegs einer gewissen Situationskomik. Auf der anderen Seite zeigen Morabito und Wieler auch die entwicklungspsychologischen Spannungsmomente zwischen Mime und Siegfried auf. Der Wanderer von Markus Marquardt wirkt fast wie ein undurchsichtiger Mafia-Boss und gebärdet sich auch so. Er ist ein Glücksspieler und Triebtäter, der sich Mime als Opfer aussucht. Er droht Mime mit einer Pistole und wird auch von diesem bedroht.

Viel stärker erscheint allerdings der zweite Akt (Bühne und Kostüme: Anna Viebrock), wo ein riesiger Zaun mit Stacheldraht die Szene in einer gespenstischen Nachtsequenz beherrscht. Man denkt bei der Aufschrift „Lebensgefahr“ sogar an das einstige Trauma der deutschen Grenze zwischen West- und Ostdeutschland. Wanderer und Alberich haben hier ihre große Auseinandersetzung über die Welt, wobei der voluminöse Alberich von Michael Ebbecke übermenschliche Kräfte gewinnt und den Wanderer kurzerhand gegen den Stacheldraht schleudert. Da gerät auch die harmonische Balance aus dem Gleichgewicht und es kommt zu gewaltigen dynamischen Entladungen. Bei der Begegnung des „Drachentöters“ Siegfried mit dem von Attila Jun brillant gesungenen Riesenwurm Fafner fliegen dann regelrecht die Fetzen. Da kann das Regieteam große dramaturgische Pluspunkte sammeln. Der Wurm ist hier allerdings ein normaler Mensch – eben ein gewesener Riese, der den Zweikampf schließlich mit einer riesigen blutenden Wunde verliert und stirbt. Siegfried sorgt als Antipode des wilhelminischen Schwertrecken für sein rasches Ende. Der schlank timbrierte Waldvogel von Josefin Feiler ist wie ein blind umherirrendes Geschöpf, das sein Gegenüber sucht und sich hilflos im Stacheldraht verheddert. Allerdings hätte man sich für das „Waldweben“ eine eher grüne und „lyrische“ Aura gewünscht, statt dessen bleibt alles schlicht und nachtschwarz.

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Christiane Libor (Brünnhilde). Foto: A.T.Schaefer

Im dritten Akt dominiert ein fast schon kahles Zimmer, wo Siegfried mit dem Wanderer als Eroberer der schlafenden Brünnhilde seine letzte große Auseinandersetzung hat. Im hinteren Lichtkegel kündigen sich dann große Ereignisse an, das eher schwache Bühnenbild wird von einer schwarzen Riesenwand mit einem weiteren Lichtkegel bedeckt – und zuletzt sieht man ein luxuriöses Hotelzimmer, in dem Siegfried die schlafwandelnde Brünnhilde in der ausgezeichneten und gesanglich gewaltigen Darstellung von Christiane Libor findet. Sie gibt mit dieser Rolle ihr Debüt an der Staatsoper Stuttgart. Immer wieder versteckt sich Siegfried vor Brünnhilde im Wandschrank, weicht ihren weiblichen Forderungen aus, um ihnen dann letztendlich doch zu erliegen. Das ist psychologisch witzig und geschickt gemacht. Da haben sich die beiden Regisseure etwas einfallen lassen. Und obwohl man den deutschen Märchenwald bei dieser Inszenierung so schmerzlich vermisst, kann man sich dennoch über ein gelungenes Happy End mit einem enthusiastisch jubelnden Paar freuen. Allen Figuren dieser Inszenierung gemeinsam ist ein verzweifelter Kampf ums Überleben, der sich erst gegen Ende glücklich auflöst. Der Familienwahnsinn scheint immer wieder in die Katastrophe zu führen.

Insgesamt kann man sagen, dass bewegungstechnisch seit der Premiere im November 1999 hier noch mehr Leben in die Szene gekommen ist. Marc Soustrot ist ein Klangfarbenzauberer, der viel Substanz aus dem mit glühender Emphase musizierenden Staatsorchester Stuttgart herausholt. Da kann man aus dem Orchestergraben Aufregendes hören. Die Liebe ist jubelnde C-Dur-Lust, während die von Renee Morloc souverän dargestellte Erda ratlos im harmonischen Nebel versinkt. Dass die Wotantragödie im dritten Akt zu ihrem erschütternden Abschluss kommt, lässt Markus Marquardts Wanderer allerdings mit heftiger Intensität deutlich werden. Geballte motivische Dichte und eine bis zu höchstem tragischen Pathos gesteigerte Tonsprache geben hiervon ein beredtes Zeugnis. Vor allem den hymnisch-ekstatischen Schwung des Finales trifft Marc Soustrot ganz ausgezeichnet. Die ariose Refrainform wird von Soustrot aber nicht in übertriebener Weise betont. Er findet auch immer wieder Zeit für leise, einfühlsame und differenzierte Zwischentöne. Die subtile Akzentuierung von Trillern und Nebentonstrukturen sowie ein ebenmäßiger gesanglicher Fluss gehören weiterhin zu den großen Vorzügen dieser Aufführung.

Für das Abgründige und Traumatische hat Wagner eine berückende Klangsprache gefunden, die Marc Soustrot mit dem vibrierend musizierenden Staatsorchester genüsslich auskostet. Da hört man manche Passagen mit neuer und überraschender Präzision. Selbst Assoziationen zu Alban Berg und die weitere Entwicklung der Musik im 20. Jahrhundert werden so denkbar. Vor allem ist Soustrot kein langweilig-akribischer Analytiker, sondern ein Dirigent, der den enormen sinnlichen Reichtum von Richard Wagners Musik facettenreich betont. So gelingen immer wieder Stellen von berückender klanglicher Schönheit und Ausdruckskraft. Selbst impressionistische Zukunftsmusik ist dabei herauszuhören. Gerade die Motivtechnik und ihre komplizierte Verzahnung werden von Marc Soustrot mit dem Staatsorchester Stuttgart transparent und klug entwirrt: Wurmthema, Logemotive, Schlaf- und Zaubermotiv sowie Walhall-, Vertrag-, Speer- und Unmutsmotiv gewinnen präzise Kraft. Das ist ein riesiges harmonisches Beziehungsnetz, das Soustrot in kluger Disposition auf die Sänger überträgt. Die fühlen sich bei ihm sehr wohl geborgen, er lässt sie mit großem Atem agieren und verschleppt keine Tempi. Dies bemerkt man ebenso bei der sehr schönen Schlussszene mit Brünnhilde, wo Christiane Libor den Gesangslinien immer mehr furiose Strahlkraft verleihen kann. Liebessehnsucht und erotische Kraft gewinnen so immer deutlichere Macht, die sich mit subtiler Musizierlust im Orchester paart. Neben dem Fluchmotiv gewinnt auch das Wanderermotiv auf Dis immer größere Wucht. Die Angstszenen werden dabei nuancenreich mit diesen Motiven verbunden. Hierbei entwickelt Marc Soustrot als Dirigent eine erstaunliche Suggestionskraft, die sich auch auf das Schlafmotiv erstreckt und die unbewussten Abgründe in Wagners Musik weckt. Soustrot betont nicht nur den frischen Scherzo-Charakter des „Siegfried“, sondern vor allem im dritten Akt den ungeheuren melodischen Spannungsbogen, der sich hier über den Gesangspartien wölbt. Wagners Humor kommt da nicht zu kurz. Die szenische Leitung dieser überzeugenden Wiederaufnahme hat Lars Franke. Mit viel Witz und Schlagfertigkeit gestaltete auch Ansi Verwey ihren Einführungvortrag, in dem sie vor allem auf die Gemeinsamkeiten der „Walküre“ und des „Siegfried“ einging.

 Alexander Walther

 

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