Stumme Intensität: Sachiko Hara als 8jähriger Philipp. Copyright: A.T.Schaefer
Stuttgart
„ERDBEBEN.TRÄUME“ von Toshio Hosokawa 6.7.2018 (Uraufführung 1.7.2018) – Klangtunnel durch eine Naturkatastrophe
Der letzte Monat der Direktion von Jossi Wieler steht ganz im Zeichen seiner Regiearbeiten. Neben der Wiederaufnahme der vor zwei Jahre zur Premiere gebrachten „I Puritani“ von Bellini und zwei Reprisen von „Fidelio“ steht die beim japanischen Komponisten Toshio Hosokawa in Auftrag gegebene Oper im Mittelpunkt. Der experimentelle Literat Marcel Beyer hat nach der Vorlage von Heinrich von Kleists 1803 entstandener Novelle „Das Erdbeben in Chili“ ein Libretto verfasst, das eine expressionistische Mischung aus bruchstückhaften geistes-/kulturgeschichtlichen Analysen und lyrisch-poetischer Verdichtung ist. Den historischen Bezug Kleists auf das Erdbeben in Santiago de Chile 1647 mit den grundlegenden Motiven des strengen spanischen Katholizismus und den Ständegesetzen hat Beyer durch seine sprachliche Verlagerung in die Gegenwart des verheerenden Erdbeben-Tsunami in Fukushima 2011 überführt und das Verhalten der Menschen in Folge einer solchen Katastrophe in den Mittelpunkt gerückt. Diesen Ansatz wiederum nutzte Toshio Hosokawa als Zeitzeuge, Betroffenheit und persönliche Eindrücke mittels seiner dem Prinzip eines Klangtunnels folgenden Kompositionsweise zu verarbeiten. Angelehnt an das No-Theater hat das Geschehen traumhaften Charakter oder gleitet zwischen Realität und Traumzustand hin und her. Das in Kleists Werk überlebende und dann adoptierte Baby bildet als achtjähriger Knabe den Rahmen und Ausgangspunkt der Oper, indem es sich auf die Suche nach seiner Herkunft macht und die Ereignisse rund um die Ermordung seiner Eltern durch die aufgebrachte Volksmenge imaginiert. Die in losen Szenen zusammengefügten Ereignisse werden somit als Rückblende dargestellt, ehe der Schluss wieder in die Gegenwart des aufgrund einer Sprachstörung oder vielleicht eines Traumas stummen Kindes und seiner Adoptiveltern Elvire und Fernando führt. Die Stimmen seiner toten Eltern Josephe und Jeronimo hört es im Geiste als Ermahnung mit halben Sätzen, die im Mysterium Natur verklingen.
Musikalisch ist das Werk in durchkomponierte Szenen mit gelegentlichen kurzen Sprechpassagen, aber weitgehend expressiv ausformuliertem Gesang gegliedert, verbunden durch drei sogenannte Orchestermonologe mit den bezeichnend wortähnlichen Begriffen „Beben“, „Leben“ und „Sterben“, in denen Hosokawa den Menschen und sein Handeln gemäß der japanischen Kultur als Teil der Natur in einer Klanglandschaft psychologisch kommentiert. Aufgrund ihrer durchgehend langsamen Tempi, die allenfalls von crescendierenden und wieder abschwellenden Windgeräuschen durchzogen sind, bleibt die mehrere Schichten übereinander lagernde Musik weitgehend fassbar, in ihren teils signalartig aufgebauten Blechbläser-Sätzen und wie geisterhaft untergemischten asiatischen Percussion-Instrumenten bezwingend sogkräftig. Die Gesangsstimmen sind, obwohl oft rhythmisch gegen ihre natürliche Sprachmelodie verschoben, durch den dynamischen Einsatz des Orchesterapparates durchweg präsent und selbst noch in ganz leise angesungenen Phrasen präsent und verständlich. Das von Noch-GMD Sylvain Cambreling, der einen Tag nach der Uraufführung seinen 70. Geburtstag feierte, präzise und feinsinnig vorbereitete, ungeheuer konzentriert spielende Staatsorchester Stuttgart stand denn mit dem Dirigenten auch bei dieser zweiten Vorstellung im Mittelpunkt des insgesamt starkes Anerkennen bezeugenden Applauses.
Die Solisten kommen allesamt ihrer Herausforderung, trotz der erwähnten Verschiebungen eine Legato-geprägte Sprechgesangslinie zu halten, ohne hörbare Defizite nach. Vor allem André Morschs profunder Bariton (Fernando) und der etwas tenoraler ausgeprägte, jüngst dem Opernstudio entwachsene Fachkollege Dominic Große (Jeronimo) deklamieren mit vorbildlicher Sprachkultur. Esther Dierkes (Josephe) gibt den poetisch komplexen Verlautbarungen intensives lyrisches Sopran-Gewicht, Sophie Marilley (Elvire) setzt ihren herben Mezzo hier auffallend schlank und farbenreich ein, Josefin Feiler gibt ihrer jüngeren Schwester Constance mit aufflammenden Sopran Intensität, Torsten Hofmann wechselt mit geradem und klang-konturiertem Charaktertenor durch die Natur-Katastrophe vom überforderten Polizisten zum Massen-Aufwiegler Pedrillo und Benjamin Williamson führt eine sadistische Horde von Knaben mit überwirklichem Counter-Tenor an. Für die stumme, aber fast durchgehend präsente Rolle des 8jährigen Philipp wurde die erfahrene japanische Schauspielerin Sachiko Hara engagiert, die trotz ihrer Reife, aber aufgrund ihrer geringen Körpergröße sowie mit sprechender Mimik wie auch fast choreographischer Bewegungs-Qualität äußerst glaubwürdig wirkt.
Eine der Massenszenen mit dem Staatsopern- und Kinderchor. Copyright: A.T.Schaefer
Der musikalische Apparat hält die Spannung über die pausenlosen 110 Minuten mehr aufrecht als es die szenische Umsetzung des bewährten Teams Jossi Wieler + Sergio Morabito (Regie + Dramaturgie) und Anna Viebrock (Bühnenbild und Kostüme) vermag. Wobei natürlich die zwischen Traumspiel und Übernatürlichkeit pendelnde Anlage des Stückes einer realistisch expressiveren Ausagierung etwas entgegen steht. Somit verlangt auch die optische Seite dieses neuen Werkes ein konzentriertes Hineinsehen und Sicheinlassen auf den Grat zwischen Leben und Tod, auf die eher zurückhaltend agierenden Akteure. Doch wie die einzeln heraus gehobenen Charaktere von der Masse nach und nach verschlungen und ihre Tötung durch ein schlichtes Einkreisen konkretisiert werden, wie überhaupt der allen Aufgaben geschlossen gewachsene, als bunte Menge von heute in Szene gesetzte Staatsopern- und Kinderchor (Einstudierung: Christoph Heil) in überwiegend langsamer Bewegung und teils nur angedeuteter Handlung geführt ist, zeugt noch einmal vom handwerklichen Geschick des scheidenden Inszenatoren-Duos. Viebrocks Einheitsbühne, bestehend aus einem in mehreren Stationen aus dem Boden hoch fahrenden ruinenhaften Hauses und einer dahinter befindlichen Brücke versinnbildlicht wohl die Spuren der Katastrophe und bietet mit einigen lochartigen Versenkungen symbolische Möglichkeiten des Erscheinens und Verschwindens, bleibt aber auch aufgrund der kaum Atmosphäre schaffenden Lichtregie von Reinhard Traub auf Dauer etwas steril.
Als Ganzes vermag das wie schon erwähnt überaus wohlwollend aufgenommene neue Musiktheater mehr durch seine klangintensive Verinnerlichung als durch seine äußerliche Darstellung aufzurütteln. Ob es Chancen auf weitere Einstudierungen hat, bleibt offen.
Udo Klebes