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STUTTGART/ Staatsoper: 2. LIEDKONZERT mit Georg Nigl / Alexander Lonquich/Katharina Knap

2. Liedkonzert der Staatsoper im Schauspielhaus Stuttgart

 GRENZÜBERSCHREITUNGEN
2. Liedkonzert der Staatsoper am 9. November 2014 im Schauspielhaus/STUTTGART

Der aus Wien stammende Bariton Georg Nigl gestaltet zurzeit die Titelpartei von Wolfgang Rihms Oper „Jakob Lenz“ an der Staatsoper Stuttgart. Rihm schildert darin den psychischen Verfall des hochbegabten Jakob Lenz. Passend dazu interpretierte Georg Nigl zusammen mit dem Erfolgspianisten Alexander Lonquich und Katharina Knap (Rezitation) Lieder von Wolfgang Rihm und Franz Schubert, ergänzt von subtilen Schriften des Psychoanalytikers Arno Gruen. In seinem Bestseller „Der Wahnsinn und die Normalität“ vertritt der Autor die interessante These, dass jene Menschen „als verrückt gelten, die den Verlust der menschlichen Werte nicht mehr ertragen„. Diejenigen gelten dagegen als normal, „die sich von ihren menschlichen Werten getrennt haben„.

Die preisgekrönte Schauspielerin Katharina Knap aus Wien ließ diesen Zwiespalt szenisch in beklemmender Weise Realität werden. Der Kranke dürfe Grenzüberschreitungen nicht wahrnehmen, zitierte sie Gruen. Insbesondere mit der Situation des Kindes hat Gruen sich intensiv beschäftigt. Das Kind ordne sich dem Willen der Eltern vollkommen unter. Auch die Säuglingsproblematik wird immer wieder angesprochen: „Die Mutter lässt den Säugling leiden, ohne dass sie sich darüber bewusst wäre…“ Man tröste sich mit der Feststellung, dass dem Kind ja nichts fehle. Katharina Knap schlüpfte wiederholt in verschiedene Rollen. Einmal mimte sie sogar die strenge Lehrerin, die den Pianisten und den Bariton gleichermaßen maßregelte. Hier entwickelte sich Situationskomik. Die Quintessenz von Gruens Schrift ist gleichwohl bemerkenswert: „Man muss verrückt sein, um Dinge so klarsichtig zu sehen“. Und eine andere Frage drängte sich beim Konzert dazwischen: „Wie würden wir uns als Eltern in einer ähnlichen Situation verhalten?“ Zwischendurch erklangen zunächst Franz Schuberts Lieder „Der Wanderer an den Mond“, „Am Fenster“ und „Sehnsucht“, wo Georg Nigl zusammen mit Alexander Lonquich mit weichem Timbre die harmonische Vielfalt und den Klangfarbenreichtum betonten. Die Themen entfalteten hierbei eine alle Grenzen sprengende Eigendynamik, wobei Georg Nigl stimmlich insbesondere die feine Technik der motivischen Arbeit von Schuberts Liedkunst offenlegte. Dies galt auch für das zuletzt dargebotene Schubert-Lied „Die Taubenpost“. Ergänzend hierzu waren Wolfgang Rihms „Neue Alexanderlieder“ (1979) nach fünf Gedichten von Ernst Herbeck für Bariton und Klavier zu hören. Moll-Staccato-Attacken wurden dabei nicht nur bei Liedern wie „Der Herbst“ oder „Ich mag euch alle nicht“ von ungeheuren dynamischen Steigerungen und wilden kontrapunktischen Ausbrüchen des Klaviers unterbrochen. Der dunkle Akkord vor der Textzeile „Der Herbst ist eingefallen“ erklang in vierfachem Forte und wurde – wie angegeben – „mit furchtbarer Gewalt“ gespielt. Ernst Herbeck war 1946 nach mehreren vorigen Klinikaufenthalten dauerhaft in die Psychiatrie eingewiesen worden und besaß das Pseudonym „Alexander“. Trotz großer Kreativität hatte er anscheinend geringe Eigenmotivation zum Schreiben. Wolfgang Rihm vertonte Anfang der achtziger Jahre dann auch das „Wölfli-Liederbuch“ für Bassbariton und Klavier nach Texten von Adolf Wölfli. Auch Wölfli wurde wegen Schizophrenie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Die Gedichte, die Wolfgang Rihm für das Wölfli-Tagebuch auswählte, sind von einfacher Reimstruktur und in einem Rhythmus in Abzählreim-Form konzipiert. Dieser einförmige Rhythmus wird durch Wölflis eigenwillige Rechtschreibung unterbrochen. Mit Taktwechseln und Synkopen unterstützt Rihm diesen stilistischen Ansatz. Der frühe Verlust der Eltern oder die unglückliche Liebe sind hier die beherrschenden Themen, die Georg Nigl zusammen mit Alexander Lonquich in packender Weise zu Gehör brachte. Auch das dramatische Thema der Vergewaltigung von Kindern verdeutlichten beide in erschreckender Weise: „Und spricht zum Kind, Du bist im Bann!“ Bestrafungen finden bei Rihm eine eruptive musikalische Entsprechung. Manchmal meinte man sogar, stammelnde Tonrepetitionen zu vernehmen. Ausladende Expressivität wurde bei der ausgezeichneten Wiedergabe dennoch großgeschrieben. Schwebende Muster wechselten sich virtuos mit schroffen Klangimpulsen ab, die herkömmliche Satztypen sprengten.

Die beengte Akustik im Schauspielhaus behinderte die Qualität dieser facettenreichen Wiedergabe keineswegs. Lyrische Intensität und geisterhafte Grenzklänge ergänzten sich fieberhaft. Das war die große Stärke dieser Interpretation. Für ihre Darbietung erhielten alle drei Künstler begeisterten Schlussapplaus. 

 
Alexander Walther

 

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