„Was hält uns zusammen wie ein Ball die Spieler einer Fußballmannschaft?“ im Schauspielhaus Stuttgart
DIE LIEBE IST EIN FLUSS
Premiere von Rene Polleschs Stück „Was hält uns zusammen wie ein Ball die Spieler einer Fußballmannschaft?“ im Schauspielhaus am 27.10.2017/STUTTGART
Copyright: Thomas Aurin
„Ich bin der Mann! Hast du das kapiert!“ Rene Pollesch stellt die Zuschauer vor vollendete Tatsachen. Der Mädchenchor präsentiert sich in einem manischen Unisono-Gewitter, das nicht nachlässt: „Hör mal auf, so zu schrein, wir sind doch nicht in der Psychiatrie“. Da geht pausenlos die Post ab, denn die Schauspieler Christian Czeremnych, Julischka Eichel, Astrid Meyerfeldt, Abak Safaei-Rad und Christian Schneeweiß stehen permanent unter Starkstrom. Da wirkt kaum etwas aufgesetzt, das weiträumige Bühnenbild von Janina Audick (Kostüme: Svenja Gassen) ergänzt die hektischen Handlungen auf der Bühne – untersetzt mit bombastischer Filmmusik. Eine Riesenzunge hängt plötzlich von der Decke herab, versetzt das Auditorium fast in einen traumatischen Zustand. „Denk nicht mal dran!“ raunt der von Christine Groß hervorragend einstudierte Frauenchor.
Auch die Tanzchoreografien von Nasra Mohamed-Ali überzeugen. Es erklingt Musik der Beach Boys („God Only Knows„), von Cat Stevens („The Wind“) und Fleetwood Mac („Tusk“). Auch John Williams („The Mission Theme„), Raymond Lefevre („Le gendarme Se Marie„), John Travolta & Olivia Newton-John („Summer Nights“), Count Basie („Blues In Hoss Flat„), Harry Gregson-Williams („Kim Jong“) und Bill Conti („Main Title a Gloria Cassavetes“) melden sich musikalisch eingängig zu Wort. Es knirscht im Gebälk: „Ich hab dich bei deiner Pussy!“ Die Schauspieler haben sich auf einem riesigen Holzgerüst platziert, das immer wieder hin- und hergeschoben wird. Den ganzen Fortschritt der Menschheit und die ganze verrückte Geschichte der Welt lässt man hier in völlig abgedrehter Weise Revue passieren. Der Pazifik wird als letzte Grenze der westlichen Welt erobert, alles schwappt zurück in psychedelische Innenwelten, die Darsteller sind hier bis zum Äussersten gefordert. Man begreift, wie stark die menschlichen Geschichten mit den Gegenständen verbunden sind. Die Sprech- und Spielweise wechselt hier zwischen ultimativ-eruptiven Ausbrüchen und nachdenklicher Agogik. Man stürzt atemlos in die Welt der Hippies und der Nerds in San Francisco, Palo Alto und Silicon Valley. „Und die Frage ist doch, was liegt zwischen uns und dem Kalifornien der 60er Jahre?“ lautet die rhetorische Feststellung. „Nicht viel. Außer das Verschwinden eines Geschmacks für die Negation! Scheiße!“ Die Situationen eskalieren unkontrolliert zwischen „Hippiescheiße“ und „verdammten Ficksäuen„. Der Sprachsalat wird von Pollesch immer wieder kräftig gewürzt und gnadenlos durcheinandergewürfelt und -gemischt. Wortschlangen werden zu phonetischen Monstern, die Souffleuse hat an diesem Abend jede Menge zu tun, sie wird ins Geschehen nahezu eingebunden (Henrike Eichhorn, Mirjam Dienst). Astrid Meyerfeldt löst die sprachlichen und darstellerischen Schwierigkeiten am souveränsten, sie reisst das gesamte Ensemble mit ihren hinreissenden hysterischen Ausbrüchen stürmisch mit. Die Bowling-Kugel mutiert zum Subjekt des Körpers, die Geschicklichkeit im Umgang mit der Kugel fordert Astrid Meyerfeldt immer wieder neu heraus, der Wunsch nach Sex gerät zur fast monströsen Offenbarung. Die Liebe ist ein Fluss. Rasch wechselnde Auftritte münden in ein Gewitter, vor dem sich die Darsteller unter dem Holzgerüst verstecken. Das Foto von der Erde erzählt dabei eine wirklich tiefgehende Geschichte. Bei „The Whole World“ geht es um das erste Foto der Erde, das vom Weltall aus gemacht wurde.
Copyright: Thomas Aurin
Und der Frauenchor rückt Astrid Meyerfeldt richtig eng auf die Pelle. Sie kann nur noch feststellen: „Ich habe mich in einen Chor verliebt...“ Was dann geschieht, wirkt wie eine Orchesterkomposition für viele Stimmen und Ausdrucksnuancen. Das Weltall scheint im Theater angekommen zu sein. Man kommt als Zuschauer überhaupt nicht zur Ruhe, wird mitgenommen auf eine Reise in die unheimliche Filmwelt von Alfred Hitchcock oder Tom Cruise. Im Hinter- und Vordergrund sieht man ein riesiges Katzengesicht und eine Filmdiva als aufgedonnerte Sexbombe. Man meint, den Falken aus dem „Malteser Falken“ und den Tesserakt aus den „Avengers“ zu erkennen. Immer wieder versuchen die Schauspieler, die Handlung neu in Schwung zu bringen. Rene Pollesch treibt seine Darsteller ohne Ende an, die werden neu elektrisiert, verbrennen sich an den sprachlichen Bandwürmern, die sich ohne Ende entblättern. Ein „MacGuffin“ hält hier als geschichtsloser Gegenstand eine Gruppe von Menschen zusammen. Alle Darsteller wirken wie angekettet, lösen sich aber auch wiederholt von ihren vielen Fesseln. Es wird heftig rebelliert: „Oder psychedelische Innenwelten. Mist!“
Donald Trump erscheint als Präsident der Vereinigten Staaten nur noch auf Twitter, wo er plötzlich zur „Hippieseele“ wird. Er wird hier auch von Journalisten auf Twitter zitiert, weil es keine Pressekonferenzen mehr gibt. Zuletzt läuft alles aus dem Ruder. Pollesch lässt vor allem Astrid Meyerfeldt immer wieder Anlauf nehmen, um große Hürden zu überwinden und Grenzen zu sprengen. Da blitzt viel Spielwitz, Humor und Satire auf, Expansionsbewegungen und Innenwelten verwandeln die Bühne in ein Schwarzes Loch, das alles aufsaugt. Dem versuchen sich die Darsteller mit aller Kraft und wilden Betonungen und Eruptionen phonetisch entgegenzustemmen, was aber misslingt. Daraus entsteht die zuweilen unbeschreibliche Komik und Sprachlosigkeit des Geschehens, es bleibt kaum Zeit, Atem zu holen.
Gleichzeitig besitzt diese insgesamt gelungene und überzeugende Inszenierung aber durchaus einen roten Faden und ein plausibles dramaturgisches Konzept, das formal aufgeht. Pollesch, der in Warschau, Zürich, Wien und Berlin inszeniert, scheint mit seinen Schauspielern auch während des Auftritts auf der Bühne zu kommunizieren. Dadurch entstehen Augenblicke künstlerischer Freiheit, die alle Akteure beglückt. Die Darsteller haben bei ihm ja auch die Freiheit, Texte zu wählen.
Riesenapplaus, „Standing Ovations“.
Alexander Walther