Premiere „Tschewengur“ im Schauspielhaus Stuttgart
SOWJETRUSSLAND ALS TRISTE HÖLLE
Premiere: Frank Castorf inszeniert „Tschewengur“ nach dem Roman von Andrej Platonov im Schauspielhaus Stuttgart am 22. Oktober 2015/STUTTGART
Copyright: Thomas Aurin
„Tschewengur“ von Andrej Platonov gehört zu den wichtigsten russischen Romanen des 20. Jahrhunderts. Erst 1972, 21 Jahre nach dem Tod des Autors, konnte er in einem Emigranten-Verlag erscheinen. Geschrieben hat Platonov dieses von der russischen Revolution geprägte Werk bereits zwischen 1927 und 1929. Man denkt unmittelbar an Filme wie Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“. Und der Regisseur Frank Castorf, der zum ersten Mal ein Stück in Stuttgart inszeniert hat, nimmt darauf in zahlreichen Video-Projektionen und Film-Sequenzen Bezug. Es erscheinen so immer wieder Filmausschnitte aus den zwanziger Jahren, die mit dem realen Bühnengeschehen verwoben werden. Denn das ist auch als Video-Projektion zu sehen, was den dramaturgischen Handlungsbogen steigert.
„Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte“ – dieser Satz von Karl Marx steht gleichsam als Motto über der gesamten Inszenierung, die mit über fünf Stunden Länge allerdings deutlich ausufert und für viele Zuschauer ermüdend ist. Aber es gelingt Castorf, den zeitlichen Spannungsbogen bis auf einige Abstriche durchzuhalten. Interessant ist allerdings auch das monumentale Bühnenbild von Aleksandar Denic: Eine riesige Mühle und ein großer Eisenbahnzug werden als skurriler Wohnraum umfunktioniert, womit diese seltsame „Wanderung mit offenem Herzen“ illustriert wird. Die Katastrophen liegen hier gleichsam in der Luft: „Es ist alles wie im Imperialismus“. Platonov hat in seinem Roman ergreifende literarische Bilder über Revolution und Bürgerkrieg geliefert, deren apokalyptischen und satirischen Zuschnitt Frank Castorf durchaus beklemmend und fesselnd umsetzt. Wenn man die Utopie ins Leben hineinzwingen will, kostet das immense Opfer. So lautet die unmittelbare Botschaft dieser Inszenierung, deren Szenen vereinzelt herausragende Qualität besitzen. Dies liegt aber vor allem auch an profilierten Darstellern wie Astrid Meyerfeldt und Katharina Knap (Sonja), die immer wieder in tausend Rollen zu schlüpfen scheinen und den gebannten Zuschauer als gestresste Autofahrerin („Nieder mit der russischen Autoindustrie!“) oder entfesselt agierender Kosaken-Anführer unmittelbar mitnehmen. Gelungen ist zudem das suggestive Sounddesign von Carsten Bänfer, bei dem sich Musik von Dmitrij Schostakowitsch und Mick Jagger in rasanter Weise abwechselt.
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Mit parodistischen Ballettszenen wird Stalins Kulturwahn erbarmungslos karikiert. Man erfährt zudem Biografisches aus dem Leben des zuletzt in großer Armut lebenden Autors Platonov: So hat der Diktator Stalin beim Lesen des Romans „Tschewengur“ an den Rand „Dreckskerl“ geschrieben. Damit hat sich auch Andrej Platonovs Lage in Russland stets verschlimmert, obwohl er nicht verhaftet wurde. Man begreift, was „Tschewengur“ im eigentlichen Sinne bedeutet. Die Handlung basiert auf der Geschichte eines Mannes, den mitten im Bürgerkrieg die Vorstellung packt, dass der Sozialismus auf natürliche Weise entstanden sein könne. Die Hauptfiguren Sascha Dvanov und Sergej Kopjonkin sind hier wirklich sowjetische Versionen von Don Quijote und Sancho Pansa, die auf der krampfhaften Suche nach dem Kommunismus und dem Grab von Rosa Luxemburg unterwegs sind. Tschewengur ist für sie jener Ort, an dem der Kommunismus bereits ausgebrochen ist. Das sieht man dann in der Inszenierung in glühend-leuchtenden Video-Projektionen, als die Protgonisten außer Rand und Band die Wälder und Wiesen stürmen. Begleitet von der Rosinante „Proletarische Kraft“ beginnt die abenteurliche Reise, die jedoch in einer furchtbaren Katastrophe endet. Denn Tschewengur wird schließlich von einer Truppe Soldaten überfallen, und Kopjonkin findet den Tod in einem aussichtslosen Kampf, der als grausames Blutbad in eine subtile Film-Sequenz mündet. In diesen Passagen erreicht Frank Castorfs Inszenierung ihre größte Dichte. Und auch die anderen Darstellerinnen und Darsteller Sandra Gerling, Johann Jürgens, Horst Kotterba, Matti Krause, Manja Kuhl, Andreas Leupold, Wolfgang Michalek und Hanna Plaß finden dabei ganz zusammen (Live-Kamera: Tobias Dusche, Daniel Keller; Video und Live-Schnitt: David Wesemann). Fiktion und Realität vermischen sich, die Schauspielerinnen und Schauspieler mimen sich teilweise selbst.
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So verwischt Frank Castorf auch geschickt die Zeitebenen und führt das Publikum wiederholt in die Irre. Dvanov reitet auf seinem Ross in die Heimat zurück und beendet sein Leben in demselben See, in dem sein Vater auf der Suche nach der Wahrheit des Todes ertrunken war. Dass Platonov ein Ökoprophet war, leugnet Frank Castorf in seiner Inszenierung nicht. Er sah die Notwendigkeit einer Energiewende, wollte fossile Brennstoffe durch erneuerbare Energien ersetzen, beschrieb Sonne, Wind und Wasser als Stromerzeuger. Castorf nimmt in seiner Stuttgarter Inszenierung die Errungenschaften der industriellen Revolution gleichsam auf die Schippe und stellt sie somit gnadenlos bloß. Auf der Drehbühne erscheint schließlich sogar der Schriftsteller Dostojewskij, dessen Zweifel am Kommunismus nicht ausgeräumt werden. Die gellenden Rufe nach Lenin verhallen letztendlich trostlos in der Wüste. Man hat bei der Inszenierung stellenweise auch den Eindruck, dass Frank Castorf sich hier als bekennender „Salonbolschewist“ selbst inszeniert hat. Allerdings vermisst man zuweilen die leisen Töne, alles scheint in einem lärmenden Inferno unterzugehen.
Vor allem die Schauspieler werden bis aufs Äusserste gefordert. Man begreift, dass die Gruppe gegen kollektive Verbote in der nachrevolutionären Epoche ganz bewusst vorgeht und gerade deswegen so kläglich scheitern muss. Tschepurnyi wird als Vorsitzender der Bolschewiki von seinem Gewissen geplagt – und der Ideologe Prokofij betrachtet den Zwischenfall mit dem Tod nur bürokratisch. Dadurch ist das erbarmungslose Ende gleichsam vorprogrammiert. Auch der „Engel der Verzweiflung“ kann hier nichts mehr retten. Die Kostüme von Adriana Braga Peretzki runden das visuell eindrucksvolle Geschehen ab.
In einer kürzeren Fassung würde diese Inszenierung aber gewinnen. Trotzdem war die Premiere beim Publikum ein Erfolg.
Alexander Walther