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STUTTGART/ Schauspiel Nord: WELLENREITER ODER MY DAUGHTERS RUNNING THROUGHT MY VEINES – Lebensweisheit zwischen turnenden Töchtern. Uraufführung

17.01.2016 | Theater

„wellenreiter oder my daughters running through my veines“im Schauspiel Stuttgart (Nord)

LEBENSWEISHEIT ZWISCHEN TURNENDEN TÖCHTERN

Uraufführung „wellenreiter oder my daughters running through my veines“ von Armin Petras am 16. Januar im Schauspiel Nord/STUTTGART

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Copyright: Julian Marbach

Nach Anton Tschechow hat Armin Petras dieses hintersinnige Stück bearbeitet. Ivans sieben Töchter haben Talent. Und der Vater versucht krampfhaft einen Vortrag über das Rauchen zu halten, was ihm nicht recht gelingen will, denn er schweift immer wieder ab. Die Töchter tanzen, musizieren und betätigen sich als Zirkusakrobaten an großen Reifen. Ivan kann sein verpfuschtes Leben vor den Töchtern allerdings nicht verbergen, die ihn dennoch nach Kräften unterstützen. Das wirkt zuweilen recht komisch, vor allem dann, wenn die jungen Damen aus Leibeskräften turnen oder die Broschüren ihres Vaters ans Publikum verkaufen wollen. Obwohl er zuletzt eine seltsame Schwimmweste anzieht, wird der alternde Vater das Wellenreiten wohl nicht mehr lernen. Dazwischen philosophiert er jedoch heftig über Gott und die Welt, was beim Publikum Heiterkeit hervorruft. Vom „Schaden“ an sich und über ungeschützten Sex will er sprechen. Tausend neue Gedanken kommen ihm in die Quere. Er geht zum Publikum und bedient sich einfach bei den Zuschauern, trinkt aus einem Pappbecher. Mit Zylinder und langen wehenden Haaren sieht er aus wie ein abgehalfterter Cabaretdirektor. Im Hintergrund sieht man einen roten Vorhang, hinter dem sich ein skelettierter Gaul tummelt. Alles wirkt irgendwie schräg und grotesk. Die Töchter sitzen zunächst steif und in Kostümen des 19. Jahrhunderts auf ihren Plätzen, bevor sie ganz allmählich auftauen. Ivan stellt seine Töchter auch vor – zum Beispiel eine Doktorandin, die vergeblich über den „Erbseneintopf“ promoviert hat. Die Töchter verschwinden immer wieder kichernd, bevor sie erneut auftauchen und den Alten aufmuntern, der ganz in sich versunken zu sein scheint. Der Regisseur Armin Petras hat die verschiedenen Stimmungsmomente minuziös beobachtet. Und Ivan doziert weiter, berichtet dem Publikum, dass er Anthroposophie, feministische Musikwissenschaft und Dreisprung unterrichtete. Der Töchter-Chor skandiert: „Wie lange dürfen wir noch studieren, Papa?!“ Alles gerät schließlich zur grotesken Farce, weil Ivan wirklich nicht zur Sache kommt. Die Töchter musizieren einfach weiter, eine sitzt am Klavier und singt „Theater, Theater“, was die anderen begierig aufgreifen. Und selbst das Violinspiel kommt nicht zu kurz, geschweige denn eine weitere komplizierte Trapeznummer. Der Vater berichtet fast melancholisch von seinen skurrilen Recherchen in einem Nachtclub und bittet das verblüffte Publikum um Applaus für seine Frau, die aber nicht erscheint. Man erfährt, was Männer wirklich wollen – nämlich Kraft. Ivan sitzt im „Lebensersatzgefängnis“, aus dem er nicht mehr entfliehen kann: „Bis nach Toulouse geh‘ ich zu Fuß!“ Der Mensch sei ein Unglück in Bewegung, doziert der Vater letztendlich. Und auf der Bühne werden alle in dichten Rauch eingehüllt. Den Darstellern Sarah Bergmann, Ann-Josephin Dietz, Annabell Ehrmann, Maike Münzenmay, Hanna Plaß, Tabea Rieger, Friederike Simon, Luisa Sophie Schroeter und dem wandlungsfähigen Wolfgang Michalek als Vater gelingen überaus dichte und intensive Szenen, die sich ständig steigern.

Die Bühne von Natascha von Steiger schwankt zwischen biederer Häuslichkeit und drastischer Zirkusatmosphäre – und auch die Kostüme von Cinzia Fossati passen sich optisch dem zeitlichen Geschehen gut an (Dramaturgie: Katrin Spira). Selbst Tschechows leise Melancholie schimmert schemenhaft hervor. Der Charakter des realistischen Symbolismus in Anlehnung an Gerhart Hauptmann oder Gabriele d’Annunzio bleibt spürbar.

Das Publikum bedankte sich mit frenetischem Schlussapplaus und „Bravo“-Rufen für diese weitere Premiere der Veranstaltungsreihe „Abschied von gestern“, die noch bis zum 19. Februar andauert.        

Alexander Walther

 

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