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STUTTGART/ Schauspiel Nord: URAUFFÜHRUNG von Hofmann & Lindholm. Premiere

Der Kritiker bekommt eine Vollnarkose

17.03.2018 | Theater


BesucherInnen. Copyright: JU

 

STUTTGART/ Schauspiel Nord: „URAUFFÜHRUNG “ von Hofmann & Lindholm am 16. März 2018 im Schauspiel Nord/STUTTGART

DER KRITIKER BEKOMMT EINE VOLLNARKOSE

 Der Abstieg zu den Müttern aus Goethes „Faust II“ steht im Mittelpunkt der Handlung dieser Inszenierung des Autorenkollektivs Hofmann & Lindholm, das sich damit zum ersten Mal mit einem klassischen Bühnenstoff beschäftigt. Diese Episode besteht nur aus einer vielsagenden Auslassung zwischen der Vorbereitung des Abstiegs und dem Wiederauftauchen des Titelhelden. Zugleich wird ein Kritiker der Stuttgarter Nachrichten bei dieser Inszenierung in Vollnarkose versetzt, nachdem er sich aufs Bett gesetzt hat und fotografiert worden ist. Man versetzt den Theaterkritiker dabei also regelrecht in Trance und in einen traumlosen Schlaf. Hofmann & Lindholm haben sich dieser nicht geschriebenen, nicht beschreibbaren Szene aus „Faust II“ gewidmet. So kommt es hier zu einer bildreichen und verstörenden Begegnung mit dem Vorbegrifflichen und Unbewussten. Und es entsteht ein Panoptikum des Flüchtigen und Prozesshaften – frei nach dem Motto: „Den lieb‘ ich, der Unmögliches begehrt!“

Ein aufgebrachter Zuschauer wirft ein Ei, ein ausgelassener Hund springt immer wieder zu Pfeiftönen über den Teppich, Requisiten werden herbei- und weggeschafft. Das Illusionstheater versinkt im Nebel, der Fleischvorhang offenbart tierische Weichteile, Holz, Metall, der Abstieg vollzieht sich in Resten, Scherben, Bruchstücken. Faust befindet sich plötzlich im empathischen Zwiegespräch mit einer Gestalt organischer Natur. Der Pakt vollzieht sich hier mit diversen Klingen, Blut, Desinfektionsmitteln, Petrischale, Schweineschwarten, Zwiebeln, Naturdarm und einem Fleischwolf. Faust begegnet hier auch einer verirrten Dame in historischem Gewand mitsamt Freitreppe oder er steht inmitten einer gierigen Landschaft mit Karnivoren, Klappfallen und Nährstoffen. Faust fragt nach Ursache und Wirkung der Quelle aller Bilder. Die Hundemeute bringt ihm dann die große Erkenntnis über die Furien. Und beim Aufstieg befindet sich der Körper zugleich im freien Fall. Goethes Text wird so begreifbar gemacht, auch wenn sich der Text und die Philosophie zwischen den Zeilen dabei nicht immer vollständig erschließen: „Das Leere lernen, Leeres lernen? Du sendest mich ins Leere, damit ich dort so Kunst als Kraft vermehre…“


Die Hundeführerin Petra Geier. Copyright: JU

Fausts „Verklärung“ bleibt auch in dieser Inszenierung durchaus spürbar, auch wenn die metaphysischen Momente nicht immer hervorleuchten (Live-Fotografie: Daniel Keller). Robert Christott, Roland Görschen und Lara Pietjou binden als Darsteller Zuschauer, Kritiker, Arzt und Hund gleichsam ins Handlungsgeschehen ein. Fausts ruheloses und durch keine Erfüllung zu sättigendes Begehren kommt in Konzept, Text und Regie von Hannah Hofmann und Sven Lindholm recht gut zum Vorschein (Raum: Julian Marbach; Hundeführerin: Petra Geier). Der böse Geist des Mephistopheles bleibt immer spürbar. Die verirrte Dame symbolisiert dabei gleichsam das „Ewig-Weibliche“, das für Faust verstörend und faszinierend zugleich ist. Klar ist auch, dass die Mütter anderswo leben – jenseits aller irdischen Dimensionen. Und die Erweckung der mythischen Figuren aus dem Urgrund erscheint als „Geister-Meisterstück“ und Gespensterbeschwörung. Man denkt bei diesen seltsam-verwirrenden Bilderfluten zugleich an die berühmten Homunculus-Szenen. Man weckt bewusst Assoziationen zu jenem Ort, den Faust sieht: Ein Ort, den ein Sterblicher normalerweise gar nicht betreten kann. Der Schlaf weist bei Goethe über den Bereich des bloß Natürlichen hinaus. Auch darauf wird in der Kritiker-Szene Bezug genommen. Die Faust-Gestalt steht dabei in ihrem Bestreben jenseits von Gut und Böse. Er taumelt aber von Extrem zu Extrem. Es ist die Unversöhnlichkeit von Konzentration und Ausdehnung, die sich dabei offenbart. Zugleich sehnt man sich nach Ordnung und Harmonie.

So wird bei dieser Inszenierung im kargen, schwarzen Bühnenraum nicht immer ganz plausibel ein kompliziertes Netz von Symbolen, Motivationen und Imaginationen entwickelt, das sich immer dichter zusammenzieht und am Schluss in einem befreienden Wolkenbruch endet, wenn die Zuschauer das Theater verlassen. Ob dieses Theater-Experiment wirklich geglückt ist, lässt sich nicht vollständig beantworten. Rätsel und Fragen bleiben. 

Alexander Walther

 

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