Uraufführung Fritz Kater „Buch (5 ingredientes de la vida)“ im Schauspiel Nord am 6.11.2015
DAS KOORDINATENSYSTEM DES LEBENS
Anja Schneider, Max Simonischek, Edmung Telgenkämpfer, Svenja Liesau. Foto: JU_OSTKREUZ
In diesem Stück, das vom Schauspiel Stuttgart in Kooperation mit den Münchner Kammerspielen gezeigt wird, stehen fünf wichtige Bestandteile des Lebens im Mittelpunkt: Utopie, Phantasie, Liebe und Tod, Instinkt und Sorge. Die fünf heterogenen Teile hat der Regisseur Armin Petras nach Fritz Katers kompliziertem Text recht unterschiedlich miteinander verbunden. 1966 diskutieren Wissenschaftler voller Inspiration Utopien, bis sie von zwei Playboy-Bunnys niedergemetzelt werden, die schließlich kichernd die Bühne verlassen. Man nimmt dies in einzelnen Filmszenen wahr. 1974 warten dann zwei verlassene Kinder an einem verschneiten Berliner Bahnsteig auf ihre Mutter („hinter den Gleisen ist ein Dämon!“), um gemeinsam nach Berlin-Buch zu ihrem Vater zu fahren. Und 1984 spricht ein todkranker Alkoholiker in Becket-Manier seine letzten Gedanken auf Tonband, während sein pubertierender Sohn die erste Liebe findet. Die differenziert und wandlungsfähig agierenden Schauspieler Svenja Liesau, Thomas Schmauser, Anja Schneider, Max Simonischek, Edmund Telgenkämper und Ursula Werner verdichten diese Szenen zu einem wirklich berührenden Kaleidoskop der Gefühle. Dazu sorgt Miles Perkin für eine gelungene Live-Musik.
Anja Schneider, Thomas Schmauser. Foto: JU_OSTKREUZ
1998 bis 2006 versucht eine afrikanische Elefantenkuh die Zeichen der Zeit zu deuten. 2013 gelingt Armin Petras das beeindruckendste Bild: Ein weltberühmter Bildender Künstler und seine Frau drohen an der Krankheit ihres Kindes zu zerbrechen: „Du bist nicht da, wenn dein Kind krepiert, du Schwein!“ Hier zeigt die Aufführung surrealistische Effekte, die sich mit Borges‘ Traumlandschaften zu verbinden scheinen und das Publikum ungemein fesseln. Das Thema Mutter und Kind variiert Armin Petras hier sehr oft und abwechslungsreich. Die Frage „Wofür lohnt es sich zu leben?“ steht wiederholt im Zentrum und wird von den Schauspielern mit viel Emotion sehr exaltiert dargestellt. Unsichtbare Fäden laufen dabei psychologisch geschickt und trotz mancher szenischer Schwächen überzeugend zusammen. Die Utopie des Textes von Fritz Kater steht dabei gleichsam für eine verbindende Idee. Die Phantasie der beiden Kinder im zweiten Teil bleibt den Zuschauern in besonderer Weise im Gedächtnis. Ursula Werner mimt brillant die Figur Ernst, die im ersten, zweiten und dritten Teil vorkommt. Hier füllt sie als Schauspielerin die Bühne ganz aus. Ernst möchte für ein besseres Leben und eine andere Gesellschaft eintreten. Den Utopien-Teil zeigt Armin Petras als Filminstallation, während im Akt „Sorge“ eine Art Skulptur auf der Bühne steht. Zuletzt sieht man das riesige Skelett eines Elefanten, der so groß wie ein Dinosaurier ist. Petras denkt beim Theater an das Kunstwerk der sozialen Plastik von Joseph Beuys. Das kommt in seiner Inszenierung von Fritz Katers subtilem Text immer wieder zum Vorschein. Indem eine neue Struktur gefunden wird, verändert sich auch der Mensch selbst. Im fünften Teil tritt dann die Figur des Bildenden Künstlers auf, der durch seine Kunst versucht, dem Leben etwas wiederzugeben. In dem verzweifelten Kampf um sein krankes Kind legt er sich auch mit dem behandelnden Arzt an, alle Protagonisten scheitern schließlich an der monströsen Elefantenfigur, die mit Stöcken und Pfannen heftig bearbeitet wird. Zudem tritt ein Aussätziger mit Totenschädel auf, der den skelettierten Elefanten ebenfalls heftig mit den Schlagstöcken bearbeitet. Immer wieder verschwinden die Personen auch in dem riesigen Bauch des Elefanten-Skeletts. Den Zusammenhang von Liebe und Tod stellt Armin Petras zuweilen erschütternd heraus – aber auch die komischen Seiten fehlen nicht. Denn am Ende erscheint eine Gruppe von Clowns bei dem Arzt und führt die ganze verzwickte Situation ad absurdum. Man begreift plötzlich: Fritz Katers Figuren versuchen zu leben und stehen sich dabei selbst im Wege. Ein solcher Charakter ist Ernst, der Wissenschaftler und Spion. Seine Welt ist zwischen Night-Club, Fernsehstudio mit Moderator und einer Art Raumschiff angelegt. Ernst debattiert mit den „Kollegen“ nach 1945 über 1984. Man sieht immer wieder Bilder von Ulrike Meinhof oder Gudrun Ensslin und sogar Thomas Morus. Die Geschichte lässt Armin Petras facettenreich Revue passieren. Orwells negative Zukunftsvision wird negiert und frühere Utopien der Menschheitsgeschichte gegenübergestellt. Der Glaube an die Synthese von wissenschaftlich-technischem und gesellschaftlichem Fortschritt gerät ins Wanken. Es kommt zur Erschließung neuer Territorien wie der Besiedlung des Mondes, des unendlichen Raums, des Weltalls. Dies alles wird in packenden Bildern festgehalten, die die durchaus einfallsreiche Inszenierung von Petras prägen. Die Diskussion der Experten spaltet sich so in „gut“ und „böse“ sowie „Ost“ und „West“. 1974 streitet man dann über die Liste gesundheitsgefährdender Drogen der WHO. Im eiskalten Berliner Winter warten die Kinder auf Godot. Auch hier findet Armin Petras visuell ein reizvolles Bild. 1984 sind wird dann endgültig im Orwell-Jahr. Ernsts Sohn erlebt hier sein Martyrium und fühlt sich als „Verräter, Versager, Verlierer“. Der Sohn kommt mit der Freundin, die Ehe der Eltern ist kaputt. Die Schauspieler gestalten diese Szenen mit großer Verwandlungskunst – allen voran Svenja Liesau. Der Sohn sucht sich zuletzt immer größere Schlupflöcher, um schließlich in einem Airport zu verschwinden.
Im vierten Teil begegnen die Zuschauer einer todtraurigen Fabel über die Tierwelt. Man erfährt, wie die Hyäne einen Strauß zerfetzt und wie sich der Strauß im Löwenrachen das Bein bricht. Alle fühlen sich irgendwie als potentielle Terroristen. Die Tiere müssen für Ernsts Experimentierlust teuer bezahlen. Im letzten Teil prangert der Künstler Martin dann mit Hilfe seiner großräumigen Projekt-Installation Umweltzerstörung und Globalisierung an. Mit seiner Frau hat er sich „Herzog Blaubarts Burg“ in grotesker Weise eingerichtet. Er streitet mit dem Arzt über die Bedeutung der Komponisten Bela Bartok und Sergej Prokofjew – und der Arzt findet schließlich, dass man zu Prokofjews Oper „Die Liebe zu den drei Orangen“ besser tanzen könne. Die Frau klagt ihren Mann wegen dessen Abwesenheit und Egoismus immer verzweifelter an, besteigt das Elefanten-Monstrum, schreit, tobt, während die Männer das „Gerüst“ mit ihren Utensilien kaputtschlagen wollen. Wie Armin Petras die Ängste der Menschen hier auf den Punkt bringt, berührt die Zuschauer ungemein. Trotz gelegentlicher visueller Löcher fesselt diese 3 Stunden und 50 Minuten dauernde Inszenierung von Armin Petras auch aufgrund der eindringlichen Lichteffekte (Bühne: Volker Hintermeier; Kostüme: Patricia Talacko; Video: Rebecca Riedel; choreografische Mitarbeit: Berit Jentzsch). Im dritten Teil werden stroboskopische Lichteffekte eingesetzt, für die Gregor Roth und Jürgen Kolb verantwortlich sind.
Alexander Walther