Herbert Blomstedt dirigiert Gustav Mahlers neunte Sinfonie am 7.6.2018 im Beethovensaal der Liederhalle/STUTTGART
BESTECHENDES SOLISTISCHES HERVORTRETEN
Herbert Blomstedt dirigierte diese 1909 vollendete neunte Sinfonie in D-Dur von Gustav Mahler wie aus einem Guss. Dies galt insbesondere für das solistische Hervortreten der Einzelinstrumente. Rasche Tempi waren im Gegensatz etwa zur zeitlupenhaften Interpretation von Carlo Maria Giulini angesagt. Die Linienzüge dieser letzten abgeschlossenen Partitur Mahlers waren in Blomstedts konzentrierter Wiedergabe von einem letzten und ergreifenden Ausdruckswillen diktiert, den das SWR Symphonieorchester mit leidenschaftlicher Akribie verfolgte. Die dynamische Kraft ging oft ins Transzendentale über, die Stimmen wurden so kunstvoll zu einem Netz von neuartiger Polyphonie verbunden. Bei Blomstedt schichteten sich die Themen hörbar kammermusikalisch-durchsichtig übereinander. Und die Melodielinie übertraf deutlich das harmonische Gerüst, worauf sich auch ein elektrisierendes Spannungsverhältnis ergab. Arabesken und Kaskaden beeinflussten in geheimnisvoller Weise diese Akkorde. Fast sphärenhaft löste sich Mahler bei Blomstedt von der Tonalität. Schwermütig und resigniert klagte das Hauptthema des ersten Satzes Andante comodo, wobei es Herbert Blomstedt überzeugend gelang, die komplizierten thematischen Verflechtungen offenzulegen. Die disharmonische Septimen- und Nonenreibung beschrieb das Ringen auf Leben und Tod, dessen leidenschaftlich-verzweifelte Auf- und Abschwünge den Zuhörern bei dieser Wiedergabe unter die Haut gingen. Der Absturz folgte dann mit elementarer Wucht, schmerzlich begleitet von einem fahlen Trauermarsch. Selbst die Nähe zur französischen Ouvertürenform wurde bei dieser hintersinnigen Interpretation nicht geleugnet. Zarte Harfenklänge hoben das harmonische Geschehen schließlich in sphärenhafte Höhen von geradezu irisierender Schönheit und Leuchtkraft. Der zweite Satz war hier ganz im Sinne Bekkers ein zu dämonischer Wildheit aufgepeitschter Totentanz, dessen wienerisch-groteske Parodie grell hervorblitzte. Da konnte sich das SWR Symphonieorchester unter Blomstedt einmal mehr profilieren. „Ätzende Weltverachtung“ beherrschte ebenfalls im Sinne Paul Bekkers die groteske Rondo-Burleske des dritten Satzes, dessen lyrisches Innehalten mit Trompete und Streichern Herbert Blomstedt in bewegender Weise beschwor. Vor allem die kontrapunktischen Finessen besaßen dabei großen spieltechnischen Glanz, der nicht nachließ. Die Metaphysik des Sterbens beherrschte den letzten Satz als berührendes Schluss-Adagio, Leid und Schmerz versank. Und nach gewaltigen und verzweifelten Kämpfen kam es zuletzt tatsächlich zu einer versöhnlichen Lösung. Die Des-Dur-Klänge prägten sich tief ein. Und ein verlöschender Klang breitete sich mit ungeheurer Größe aus. Das Abschiedsmotiv aus dem „Lied von der Erde“ wirkte erschütternd. Große Ovationen für den über 90jährigen schwedisch-amerikanischen Altmeister Herbert Blomstedt und das SWR Symphonieorchester.
Alexander Walther