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STUTTGART/ Liederhalle: „FRIEDENSKONZERT mit SWR Symphonieorchester mit Teodor Currentzis/ Antoine Tamestit

09.04.2022 | Konzert/Liederabende

Friedenskonzert: SWR Symphonieorchester mit Teodor Currentzis im Beethovensaal der Liederhalle am 8.4.2022/STUTTGART

Elektrisierende Korrespondenz

Als Appell für Frieden und Versöhnung hat Teodor Currentzis diesmal ein ukrainisch-deutsch-russisches Programm präsentiert. Mit dem ukrainischen Komponisten Oleksandr Shchetynsky verbindet ihn eine langjährige Freundschaft. Von dem 1960 geborenen Shchetynsky erklang zunächst „Glossolalie for orchestra“, wo Einflüsse von Arnold Schönberg,  Edison Denisov, Alfred Schnittke, György Ligeti und sogar Olivier Messiaen herauszuhören sind. Mit „Glossolalie“ meint Shchetynsky die umstrittene „Zungenrede“, die auf die Pfingstbewegung verweist. Demnach waren die von Jesus geschickten Apostel fähig, in verschiedenen Sprachen zu sprechen. Deswegen konnte sich das Christentum weltweit verbreiten. Vibraphon-Klänge vermischen sich hier geheimnisvoll mit Flöten, Klarinetten, Gitarre und Saxophon. In einer starken dynamischen Steigerung gipfelt das harmonische Geschehen in einem gewaltigen Schlagzeug-Wirbel mit hohen Streichern (Pizzicati) und Flöten. Und die Musik endet in einem mysteriösen Glockenläuten.

Ganz ungewöhnliche Perspektiven eröffnet das Viola Concerto des 1973 geborenen deutschen Komponisten Jörg Widmann. In der Liederhalle tastete sich der Solist Antoine Tamestit zart klopfend vor, ging durch das Orchester hindurch, während kleine Bongo-Trommeln auf sein Klopfen antworteten. Harfen, Flöten, Kontrabässe und Tuba vermischen sich dabei zu einem suggestiven Klangbild, dessen Intensität immer mehr zunimmt. Bläser-Glissandi und ausdrucksstarke Melodik hinterlassen einen tiefen Eindruck. Der Beginn des Konzerts soll laut Aussage des Komponisten ein „sehnsüchtiger Gesang aus einem imaginären orientalischen Märchenland“ sein. Die Korrespondenz zwischen Orchester und Solist nimmt hier elektrisierende Formen an. Und die abschließende melodische Weise wirkt sogar wie ein geheimnisvoller Cantus-firmus-Gesang. Als Zugabe spielte Antoine Tamestit (Viola) noch ein wunderbar inniges ukrainisches Wiegenlied, das von einer Sarabande Johann Sebastian Bachs inspiriert zu sein scheint.

Zum Abschluss dieses bemerkenswerten Konzerts folgte noch eine glutvolle Wiedergabe der Sinfonie Nr. 5 in d-Moll op. 47 von Dmitrij Schostakowitsch. Der Komponist schrieb dieses Werk im Jahre 1937 und stellte es unter das Motto „Das Werden der Persönlichkeit“. So wechselt hier auch die Harmonik zwischen Zerknirschtheit und orgiastischen Passagen, was Teodor Currentzis mit dem SWR Symphonieorchester überzeugend herausarbeitete. Bruckner, Tschaikowsky und Mahler sind immer wieder herauszuhören – und doch findet Schostakowitsch hier zu einem ganz eigenen Stil. Nach Alexis Tolstoi werden dabei die psychologischen Drangsale der Menschheit geschildert – Parallelen zur Ukraine-Katastrophe sind offensichtlich. Das Largo der unter Tage arbeitenden Massen, das Accellerando der Untergrundbahn sowie das Allegro als Symbol der gigantischen Fabrikmaschinen vereinigten sich hier zu einem bewegenden Klangkosmos. Das Adagio stellt die Synthese von sowjetischer Kultur, Wissenschaft und Kunst dar. Das Scherzo erscheint wie eine Hymne an die sportlichen Bewegungen. Teodor Currentzis erwies sich  hier als ein Meister der musikalischen Charakterisierung – wobei ihm das SWR Symphonieorchester in allen Punkten folgte und auch kleine Intonationsschwächen überwand. Von „bohrenden Lanzenstichen in den Wunden eines Gepeinigten“ sprach der russische Cellist Rostropowitsch beim Finale – und Currentzis unterstrich die messerscharfen Staccato-Attacken packend. Die kühne Thematik schien der Stalin-Diktatur gleichsam zu trotzen – und auch die lineare Verarbeitung erhielt bei Currentzis ein starkes Profil. Als Zugabe folgte noch „Jesu meine Freude“ aus der Kantate „Herz und Mund und Tat und Leben“ BWV 147 von Johann Sebastian Bach. Ein ergreifender Kontrast. Jubel, Begeisterung.   

Alexander Walther

 

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